Rezension

Dystopischer Pageturner voll ironischer Weisheit

Das Herz kommt zuletzt - Margaret Atwood

Das Herz kommt zuletzt
von Margaret Atwood

Diese Überschrift klingt fast, als sei das Buch Suppe, Hauptgericht und Nachtisch auf einem Teller. Die Ingredienzen, die Margaret Atwood in ihrem US-Zukunftsroman zusammenbringt, ergänzen sich jedoch im Gegenteil zu einem gehaltvollen Leseerlebnis, das gleichermaßen Spannung und Reflexion ermöglicht.

USA, Rust Belt, nach einer verheerenden Wirtschaftskrise in naher Zukunft. Stan und Charmaine, einem jungen Paar, das Haus und Job verloren hat, im Auto lebt und ständig auf der Flucht vor marodierenden Banden und Vergewaltigern ist, bietet sich eines Tages die Chance, an einem Sozialprojekt teilzunehmen: eine gated community, in der kein Kontakt mehr zur Außenwelt herrscht, in der für alle materiellen Notwendigkeiten gesorgt ist, deren Bewohner wechselweise einen Monat in Freiheit und einen im Gefängnis mit Arbeitszwang verbringen müssen. Das Glücksversprechen für die Bürger, eingebettet in einen Lebensstil der 1950er Jahre, wird erkauft durch eine weitgehende Entmündigung, und in der Alltagsroutine der Stadt wie des Paars zeigen sich bald Risse, hinter denen nach und nach die ganze hässliche Wahrheit zum Vorschein kommt. Die kanadische Autorin versteht es einmal mehr meisterlich, künstliche und menschliche Elvis- und Marilyn-Doubles, dubiose Manager und sexuelle Obsessionen zu einem abstrus-irrwitzigen Cocktail aus Leidenschaft, Gier, Machtstreben, aber auch echter Zuneigung und lebensphilosophischem Anspruch zu mixen, in dem bald nichts mehr so ist, wie es scheint. Wieviel bedeuten uns Freiheit und Wohlstand, Geborgenheit und Liebe wirklich? Was gibt es nur, ohne etwas anderes dafür zu verlieren? Wie weit sind wir dafür bereit zu gehen? Atwood überzeugt durch ihre straighte Sprache und ihre ironisch-liebevollen Seitenhiebe auf Vorstellungen von heiler Welt und unverrückbaren Lebenshaltungen. Einzig der Schluss ist vielleicht nicht hundertprozentig überzeugend - aber vielleicht ist auch er letztlich nur ironisch gemeint.