Rezension

Ein Buch wie Baden in stürmischer See

Die niedrigen Himmel - Anthony Marra

Die niedrigen Himmel
von Anthony Marra

Bewertet mit 5 Sternen

Dieses Buch zu lesen ist wie Baden in stürmischer See. Man geht freiwillig hinein, und dann zieht es einem die Füße weg. Man wird hin und her geworfen, lässt sich treiben, ab und zu bricht eine Welle über dem Kopf zusammen und man weiß kurzzeitig nicht, wo man ist, aber dann geht es weiter, und weiter und weiter.

Ausgangspunkt des Buches ist: Tschetschenien 2004, mitten im zweiten tschetschenischen Krieg. Achmed, ein unbegabter Arzt, der lieber Maler geworden wäre, rettet die 8jährige Hawah vor der Gefangennahme durch föderale Truppen, die ihren Vater verhaftet haben. Sie finden Unterschlupf in einem zerbombten Krankenhaus, das die Chirurgin Sonja mit provisorischen Materialien alleine betreibt.

Jeder dieser Menschen hat eine Geschichte, und zwei kurz aufeinander folgende Kriege erlebt. Das erfährt man aus Erinnerungen und gelegentlichen Gedankenblitzen. Sie haben Familie und Freunde, die auch eine eigene Geschichte haben. Und die lernt man alle nach und nach kennen. So schwankt die Handlung hin und her zwischen der aktuellen Situation und vergangenen Ereignissen.
Chassan, ein 78jähriger Schriftsteller, hat sogar noch den zweiten Weltkrieg mitgemacht. Sein Sohn Ramsan ist Informant der Föderalen und hat schon das halbe Dorf verraten. Früher war er gut befreundet mit Achmed und Dokka. Dokka war Hawahs Vater, die jetzt bei Sonja lebt, die nach ihrer Schwester Natascha sucht, die plötzlich verschwunden ist...

So treibt man dahin von Schicksal zu Schicksal, die alle irgendwie verbunden sind und erfährt häppchenweise, wie das Leben in diesem Land ist, das erst vom staatlichen Sozialismus drangsaliert wurde, evakuiert und rückgesiedelt wurde, um nach der Befreiung zwei Kriege zu erleben.

Diesen Eindruck des Dahintreibens unterstützt auch der Schreibstil. Da gibt ein Wort das andere, ein Gedanke den Nächsten, und schon hat man einen Satz gelesen, der über eine ganze Seite ging und hat es gar nicht bemerkt. Das Ganze ist durchzogen von sehr leisem Humor. Manch schicksalhaftes Ereignis wird beinahe als Anekdote zum Besten gegeben.

Dieses Buch zu lesen ist kurzweilig und beklemmend, ein Balanceakt zwischen geschichtlichem Abriss, persönlichen Schicksalen und humorvoller Erzählung. Ich bin sehr beeindruckt und kann es nur jedem empfehlen.