Rezension

It never ends - Die Tschetschenienkriege

Die niedrigen Himmel - Anthony Marra

Die niedrigen Himmel
von Anthony Marra

Bewertet mit 5 Sternen

Wieder aktuell: Der Ukrainekrieg wird mehr und mehr zu einer Wiederholung der Tschetschenienkriege.

Die beiden tschetschenischen Kriege, Erster und Zweiter, sind die temporären Schauplätze dieses zeitgeschichtlichen Romans von Anthony Marra, der, wie der kurze Quellnachweis am Ende des Buches beweist, zwar die einzelnen Protagonisten erfunden hat, sich aber beileibe nichts aus den Fingern gesogen hat.

Eldár, ein kleiner Ort in der Nähe von Volchansk, ist der Ort, an dem Akhmed lebt mit Ulla, seiner bettlägerigen Frau, die die Veränderungen ihrer Welt psychisch nicht verkraftet hat und einfach aufgehört hat zu sein. Auch Dokka lebt dort mit Frau und Tochter und Khazan mit seiner Familie. In Volchansk, nicht weit entfernt, befindet sich das Hospital, an das die Ärztin Sonja in einem Anfall von Verrücktheit, Verantwortungs- und Schuldgefühlen zurückkommt und sich monatelang damit beschäftigt Opfern von Landminen Gliedmaßen zu amputieren, während sie mental dem Verbleib ihrer Schwester nachspürt. Bis Havaa auftaucht, an der Hand Akhmeds.

Grozny ist auch nicht sehr weit. Von Grozny nach London ist es kein Katzensprung, doch Sonja gelang er, sie ist die Intelligenzbestie in der Familie, sie, die mit ihrer Familie zur russischen Minderheit gehörte. Die russische Minderheit besetzte alle Schlüssel-  und Machtpositionen im Land, angefangen vom Chefportier und Chefkoch bis zum Polizeichef und bis ganz nach oben zu den führenden Köpfen der Regierung oder des Militärs. Natürlich will das Land sich aus dieser russischen Umarmung befreien.

Von 1994 bis 1996 haben die Russen  bombardiert, zerstört, den grössten Teil Tschetscheniens unter Kontrolle, doch der im Land tobende Guerillakrieg demoralisiert und ein Krankenhaus, das, an dem Sonja die Stellung hält, wird von Rebellen eingenommen. Sonja versorgt alle, aufständische oder reguläre Truppen, einerlei, sie hat auch keine Wahl, zuletzt ist sie nur noch imstande Geburtshilfe zu leisten, wobei sie zwischenzeitlich von Natascha, ihrer Schwester, unterstützt wird.

Der Zweite Tschetschenische Krieg, 2001 – 2004, kommt leise, man bemerkt ihn daran, wie alles, was das Leben normal und erträglich macht, versiegt. Die Preise auf dem öffentlichen Markt steigen, auch und besonders die Lebensmittelpreise, Elektrizität, die nach dem ersten Krieg zwar beschränkt, aber regelmässig wieder zur Verfügung stand, gibt es bald nicht mehr, nach den Preissteigerungen setzt die Lebensmittelknappheit ein, dann gibt es gar nichts mehr, fliessendes Wasser Fehlanzeige, man friert, man hungert, man kann eigentlich nicht mehr überleben, Gesetz und Recht sind ja längst ausgehebelt, die Bevölkerung ist jeder Kraft und Gewalt, die ihr begegnet hilflos ausgeliefert, Islamisten haben das Land überschwemmt, es ist ein Zufall, ob man lebt oder stirbt, viele werden verschleppt und aus nichtigen Gründen unmenschlich gefoltert.

Eine Gesinnung leisten sich nur noch wenige, und die, die sie sich leisten, müssen bezahlen dafür. Menschlichkeit wird auch zwischen Nachbarn und Freunden ein Luxus. Rhamzan, Khassans Sohn, kann sie sich nicht leisten. Einmal hat er der Folter widerstanden, ein zweites Mal vermag er es nicht, er wird ein Kollaborateur. Wenigstens kann er dafür das Insulin für seinen an Diabetes leidenden Vater auftreiben. Auch der Kollaborateur hat eine Geschichte, genau wie sein Vater, der den Sohn mit Schweigen straft, genau wie die Nachbarn, die nach und nach verschwinden, von Rhamzan ans Messer geliefert.

Doch immer wieder kreuzen sich die Lebensfädchen der in diesem Land, in der Kriegshölle eingeschlossenen Zivilisten, um die sich keiner einen Deut schert, auch Allah nicht. Sie kreuzen sich an unerwarteten Stellen durch unerwartete Vorkommnisse, was der Autor auf leise, überraschende, erfindungsreiche, listige und sympathische Art und Weise gestaltet. Und so zeichnet sich nach und nach ein komplexes Muster und Bild aller seiner Protagonisten ab.

Von dem Erstling Anthony Marras bin ich mehr als beeindruckt. Dadurch dass ich es in der Originalsprache gelesen habe, konnte ich es nicht „verschlingen“, und einige „Lesepflichten“ dazwischen haben das Buch ziemlich lange auf meinem Tisch gelassen. Dafür habe ich es sehr intensiv gelesen und werde seine Helden nicht so schnell vergessen. Anthony Marra hat eine Erzählweise, die mich begeistert, sie ist ebenso schlicht wie kunstfertig und der Autor tritt angenehm in den Hintergrund. Ich war ganz drin, ganz nah am Geschehen und obwohl menschliches Handeln nicht immer dieses Wort verdiente, hat der Autor eine Darstellungsweise gewählt, durch die ich die Schrecknisse des Erzählten verkraften konnte, nur einmal nicht, da brauchte ich das Gespräch mit einem anderen Menschen und eine Pause, denn es drehte sich mir der Magen um. Und zwar deshalb, weil Menschen wirklich so sein können und wenn es sich auch um eine erfundene Szene im Roman für diesmal handelte, weiss ich, dass Menschen einander noch Schlimmeres antun. Dieses Wissen ist eigentlich nicht zu verkraften.

Herausragend empfand ich das Verhältnis von Dialog und Erzählung, die Zeitleisten am Anfang eines Kapitels, das Verspinnen der Schicksalsfäden und den zwischendurch vom Erzähler immer einmal wieder vorgenommenen Ausblick auf das weitere Schicksal der einzelnen Protagonisten über den vom Autor gewählten direkten Erzähl-Zeitpunkt hinaus bis zu ihrem Lebensende.

Wie bewältigen Menschen Apokalypse? Gar nicht oder mit viel schwarzem Humor. Ein einzelnes Bild will ich herausgreifen: Es hat in Grozny auf einem exponierten Platz wohl einmal eine von den russischen Behörden aufgestellte Plastik gegeben, die das erzwungene Zusammenleben der Ethnien idealisieren sollte, dargestellt anhand einer Dreiheit, nämlich eines inguschetischen Einheimischen, eines Tschetschenen und eines Russen, die sich innigst umarmen, das Ganze betitelt frei übersetzt mit: Alle Menschen werden Brüder, doch das Volk bedachte die Plastik mit dem Namen „The three idiots“ . Das war das einzige Mal, dass Marra mir ein lautes Prusten erlaubte! Ansonsten las ich mit angehaltenem Atem und Trauer.

Bekannter ist Marras Roman unter dem deutschen Titel „Die niederen Himmel“.

Fazit: Wer es vermag sollte Anthony Marras Roman mit dem komplizierten Titel: „A constellation of vital phenomena“ im Original lesen! Es lohnt sich. Von mir gibt es eine dringende Leseempfehlung! Sowohl für den deutschen wie den englischen Text.