Rezension

Ein Kontinent auf dem Weg in die Katastrophe

Die Schlafwandler - Christopher Clark

Die Schlafwandler
von Christopher Clark

Bewertet mit 4.5 Sternen

Im Rückblick auf das letzte Jahrhundert und die beiden großen Kriege die das Weltgefüge ein für allemal verändert haben wird der erste Weltkrieg immer eher stiefmütterlich und sein Ende lediglich als Ausgangssituation für den zweiten Weltkrieg betrachtet. Der australische Historiker Christopher Clark hat jetzt mit seinem fast 900 Seiten starken Sachbuch eine großartige Darstellung vor allem der Vorgeschichte des Krieges abgeliefert.

Jede Geschichtsschreibung ist auch Interpretation und in gewissem Maße auch Fiktion aber was Clark beschreibt wirkt durchaus schlüssig und sehr gut recherchiert. Anders als andere Abhandlungen geht Clark ganz bewusst auf die Situation in Osteuropa und wie es zu dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand kommen konnte ein. Das heißt er fängt nicht bei dem in Deutschland gängigen Bild des kriegswütigen Wilhelm II. der einmal vom Aufpasser Bismarck befreit seinen verletzten Stolz kurieren wollte, an.

Selbst für jemanden der sich bisher schon für Geschichte interessiert hat ist die Flut an Informationen erstaunlich und man verliert auch manchmal den Überblick bei den ganzen klangvollen serbischen Namen aber dabei wird einem so einiges bewusst über die Entscheider der großen europäischen Mächte die sich hauptsächlich von persönlichen Eitelkeiten oder uralten Vorurteilen leiten ließen anstatt die gefährliche Stimmung im Europa 1913 wahrzunehmen.

Es ist schon erstaunlich wie viel passiert ist bis es zu diesem Krieg überhaupt gekommen ist, tatsächlich kommt Clark auf die Julikrise erst circa auf Seite 600 zu sprechen. Bei allem Gespür fürs große Ganze verliert er dabei die eigentlichen Figuren und privaten Schicksale auf dem politischen Schachbrett nie aus den Augen. Besonders beeindruckend ist die detailreiche Beschreibung des Attentats von Sarajevo. Wie der Erzherzog nach dem ersten Attentatversuch die erste Hilfe bei den Verwundeten leistet. Aber auch die Schilderung wie Wilhelm II. beim Besuch in Russland seinen Cousin Nikolausdurch private Erzählungen aus seiner Kindheit in Verlegenheit brachte.

Das ist ein großartiges Geschichtsbuch! Clark schafft es keinen Staat zum Sündenbock zu ernennen, sondern enttarnt die Politiker des Vorkriegseuropas, die über eigene Eitelkeiten und Bündnissysteme gestolpert sind.