Rezension

Ein redlicher Mann ...

Die Kraft ihres Herzens - Monika Detering

Die Kraft ihres Herzens
von Monika Detering

Bewertet mit 5 Sternen

„...Zu Hause badet die Küche im Spätnachmittagssonnenlicht, die Wände sehen dunkelgolden aus...“

 

Wir schreiben das Jahr 1952. Marie ist auf das Dach ihrer Schule geklettert. Dort fühlt sie sich frei wie ein Vogel. Sie beleidigt von oben einen Lehrer. Was folgt, sind zehn Schläge mit dem Stock auf die Hand.

Die Autorin hat ihre Protagonistin die Lebensgeschichte im Rückblick erzählen lassen. Marie ist ein schwieriges Kund. Doch das Umfeld sieht nur das Verhalten und hinterfragt es nicht. Keinen interessieren die Ursachen.

Maries Eltern leben getrennt. Der Vater hat die Familie verlassen und ist eine neue Ehe eingegangen. Den Unterhalt bezahlt er nur sporadisch, obwohl er in sehr guten finanziellen Verhältnissen lebt. Maries Mutter arbeitet als Buchhalterin und Einkäuferin und hat wenig Zeit für ihre beiden Töchter. Trotzdem ist das Geld oft knapp. Die katholisch geprägte Erziehung setzt auf Strafe und Gehorsam. Während Marie durch ihre Aufmüpfigkeit und scheinbar unbegründete Wutausbrüche auffällt, geht ihre ältere Schwester Hanna nachts schon eigene Wege.

Regelmäßig erscheint der Vater, um einen Tag mit Marie zu verbringen. Dabei wird er zunehmend übergriffig. Obwohl das Mädchen nie aufgeklärt wurde, empfindet sie das Verhalten des Vaters als unangenehm und abstoßend. Er vermittelt ihr, dass er ein Recht dazu habe und dass ihr die Hölle drohe, wenn sie auch nur ein Wort darüber verliert.

Der Schriftstil des Buches ist sehr ausgereift. Geschickt versteht es die Autorin, am Rande des Geschehens zu balancieren. Das bedeutet, dass die Ereignisse nur angedeutet, selten ausgeschmückt werden, dafür aber Maries seelischer Zustand und ihre Empfindungen viel Raum erhalten. Diese Andeutungen wirken stärker und erschütternder als eine detailgetreue Schilderung. Maries Abgleiten in die Phantasie, ihre Alpträume, das zunehmende Ausblenden der Aktionen werden mit aussagekräftigen Metaphern und treffenden Adjektiven und Partizipien wiedergegeben. Viele der Bilder sprechen für sich. Der Gegenpol dazu sind die Überheblichkeit des Vaters, seine Besitzansprüche, das Ausspielen der Töchter gegeneinander und die Drohgebärden.Er glaubt, psychische Verletzungen mit Geld zudecken zu können. Betroffen macht, dass er es nicht einmal für nötig erachtet, zur Kommunion seiner Tochter zu erscheinen. Trotzdem ist der Tag für Marie einer der wenigen Lichtblicke.

Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach Verständnis ist in jeder Zeile spürbar. Es soll Jahre dauern, bis Marie in der Lage ist, das Geschehen aufzuarbeiten und ihr Leben neu in die Hand zu nehmen.

Auch wenn nach und nach ein gewisser Wohlstand in die Familie einzieht, fest zu machen an den neuen technischen Geräten, bleibt die Lebensweise dem alten verhaftet. Die Mutter bestimmt, was Marie anzieht. Ihre Wünsche nach modischer Kleidung werden ignoriert.

Die örtlichen Verhältnisse werden gut beschrieben. Obiges Zitat ist ein Beispiel für die sprachlichen Feinheiten.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es zeigt, wie subtil Missbrauch funktionieren kann und welch lebenslange Spuren er in der Seele hinterlässt. Ein letztes Zitat dazu, welches fast am Schluss des Buches steht, möge meine Rezension abrunden:

„...Erinnerung kam gestern und heute, als das Leben mir gehörte, ich alle Hoffnung und jeden Traum an dieses hatte. Morgen werde ich mich nicht mehr erinnern...“