Rezension

Eine Schatzkiste!

Geschichte für einen Augenblick - Ruth Ozeki

Geschichte für einen Augenblick
von Ruth Ozeki

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die Schriftstellerin Ruth lebt mit ihrem Mann und dem Kater Pesto (eigentlich Schrödinger, aber das ist zu lang) auf einer einsamen kanadischen Pazifikinsel und hat dort mit Stromausfällen und neugierigen Nachbarn zu kämpfen. Ruths demente Mutter ist vor einiger Zeit gestoben und eigentlich will sie die letzten gemeinsamen Jahre schriftstellerisch aufarbeiten, doch der Stapel an Notizen lähmt sie und es will einfach kein gescheiter Text dabei herauskommen.

Dann findet Ruth am Stand ein Päckchen mit einem Tagebuch, einer Uhr und Briefen in japanischer Sprache. Das Tagebuch gehörte der Teenagerin Naoko, die sich hier mit Witz aber auch großer Ernsthaftigkeit ihre Probleme von der Seele schreibt. Und die sind nicht gering: Sie spricht von Mobbing, einem selbstmordgefährdetem Vater, dem traumatischen Umzug von Amerika nach Tokio und einigen Dingen mehr. Ruth beginnt sich Sorgen zu machen: Lebt das Mädchen noch? Hat sie der Tsunami von 2011 getroffen? Oder hat sich jemand all das nur ausgedacht?

Dieser Roman ist ein wahre Schatzkiste! Ozeki verbindet auf natürliche Weise die unterschiedlichsten Themen miteinander. Ich habe etwas über Zen-Buddhismus gelernt, über Physik und japanische Kultur. Über Umweltverschmutzung, Philosophie und Inselleben. Über Krähen, Kampfflieger in Zweiten Weltkrieg und Dienstmädchencafes. Ozeki erzählt furchtbar traurige Dinge, schafft es aber den Humor dabei nicht zu verlieren.

Dann ist Naoko einfach unheimlich sympathisch und schreibt im teenietypischen, manchmal ungewollt witzigem Stil. Ihr Tagebuch zu lesen ist eine wahre Freude – auch wenn es immer düsterer wird. Ruths Geschichte hat nicht ganz so viel Zugkraft, aber auch sie ist eine gelungene Figur, die man einfach ins Herz schließen muss. Auch wenn natürlich niemand ernsthaft Naokos Urgroßmutter Jiko den ersten Platz der beliebtesten Figuren streitig machen kann! Eine feministisch kommunistische Nonne unbekannten Alters, die nicht viel sagt, aber wenn dann mit wahren Weisheiten aufwartet.

Auch die Form dieses Romans ist so bunt wie sein Inhalt. Es gibt einen Haufen (sinnvolle) Fußnoten, Briefe, Übersetzungen und verschiedene Anhänge. Ganz zu schweigen davon, dass sich die Autorin selbst an prominente Stelle in den Roman hineingeschrieben hat. Wer Spaß an diesen Spielereien hat, kommt hier voll auf seine Kosten! Mein einziger Kritikpunkt ist das Ende, das sich im Gegensatz zum Rest etwas zieht.

„Geschichte für einen Augenblick“ ist ein wunderbarer Roman mit einer Fülle an interessanten Themen und einer spannenden wie abwechslungsreichen Story, der es schafft sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Traurig aber mit Humor. Ernst aber leichtgängig. Die vielen Seiten lesen sich locker weg und am Ende ist man traurig, dass man Ruth, Nao und Co. wieder verlassen muss. Also ein Schmöker, wie er sein soll!