Rezension

Einfühlsam geschrieben

Hinter weißen Zäunen
von Susan Meissner

Bewertet mit 5 Sternen

„…Wenn man nicht durchs Feuer gegangen ist, kann man nicht verstehen, wie es einen verändert…“

 

Tally, 16 Jahre alt, wurde von ihrem Vater zur Großmutter mütterlicherseits gebracht, da er sich auf eine Reise nach Polen begab, in das Land seiner Großeltern. Als die Großmutter unerwartet stirbt und der Aufenthaltsort des Vaters nicht zu ermitteln ist, kommt Tally zu ihrer Tante Amanda.

Die Autorin hat einen tiefgründigen Roman geschrieben. Sie arbeitet anhand einer Familie den Gegensatz von Schein und Sein deutlich heraus.

Die Protagonisten sind ausreichend charakterisiert. Tally fügt sich schnell in das Familienleben ein. Im Gegensatz zu dem, was der Klappentext suggeriert, ist sie aufgeschlossen, ruhig und einfühlsam.

Ihre Tante Amanda ist Lehrerin, ihr Onkel Neil Finanzberater. Außerdem ist er ein begnadeter Hobbyschreiner. Seine Erzeugnisse verschenkt er.

Chase, der Cousin, fertigt Videofilme an. Ashley, die Cousine, geht zum Tanzen. Dass sie das Zimmer mit Tally teilen muss, stört sie mit der Zeit.  

Die Familie lebt damit in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen. Alles scheint in Ordnung. Doch hinter dem weißen Zaun verbergen sich tiefergehende Probleme. Im Mittelpunkt steht Chase. Ein Erlebnis aus seiner Kindheit wird verschwiegen, weil die Eltern keine alten Wunden aufreißen wollen. Dadurch haben sie aber auch verlernt, miteinander zu sprechen. Das Leben ist ein Nebeneinander geworden. Kleine und größere Hilferufe werden nicht mehr gehört.

Im Altenheim lernen Chase und Tally zwei Männer kennen, die durch die Hölle von Treblinka gegangen sind. Die Gespräche zwischen Alt und Jung gehören zu den Höhepunkten  des Buches. Obiges Zitat stammt aus dem Munde von Josef. Für ein Schulprojekt erzählen Josef und Eliasz den Jugendlichen von ihrem Leben – sachlich und ohne Bitterkeit. Gerade dadurch aber werden das Leid und der Schmerz besonders deutlich.  Die Tiefe ihres Glaubens und  ihr Gottvertrauen haben ihnen jedoch die Erlebnisse des Schreckens nicht nehmen können.

Das Cover mit dem weißen Zaun umrankt von Blättern und Blüten täuscht eine Harmonie vor, die nicht mehr vorhanden ist. In den Seelen brodelt es. Ich als Leser habe fast auf einen Ausbruch gewartet.

Das Buch lässt sich zügig lesen. Die Geschichte ist spannend geschrieben. Dabei resultiert die Spannung weniger aus dem äußeren Geschehen, mehr aus den inneren Kämpfen der Protagonisten.

Der Schriftstil ist dem Thema angemessen. Die Autorin versteht es, den Gesprächen Tiefe zu geben, Personen und Orte anschaulich zu beschreiben und durch die Verwendung von Metaphern Emotionen in Worten deutlich zu machen. An entscheidenden Stellen fügt sie Briefe in die Geschichte ein, die kursiv hervorgehoben werden.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es hat mich berührt und zum Nachdenken gebracht.