Rezension

Elefant und Veilchen

Dagegen die Elefanten! -

Dagegen die Elefanten!
von Dagmar Leupold

Elefanten kann man nicht übersehen. Herr Harald dagegen wird nur sehr selten beachtet: Er ist der Mann in der Operngarderobe, der die Mäntel der Besucher entgegennimmt, manchmal auch Schirme oder Einkaufstüten, und er ist ihr vorübergehender Hüter, bis die Besucher ihr Eigentum nach Ende der Vorstellung wieder abholen. Als Person wird er dabei nicht wahrgenommen, doch das stört ihn nicht. Sein Leben ist ruhig und unaufgeregt, eine verlässliche Routine. Bei einem Kammerkonzert entdeckt er eine Frau, deren Leben ebenfalls im Hintergrund abläuft: Die Frau, die dem Solisten die Noten umblättert, steht nie im Vordergrund, soll möglichst unsichtbar bleiben, obwohl das Gelingen des Konzertabends auch von ihr abhängt. Er ist fasziniert von ihr, malt sich ihr Leben in immer neuen Einzelheiten aus. Und dann wird eines Abends ein Mantel nicht abgeholt, in dessen Tasche er eine Pistole findet. Heimlich entwendet er sie und spinnt allerlei Tagträume und Pläne, was er mit ihr tun wird...

Dagmar Leupold schildert in ihrem Roman ein Jahr im Leben eines Mannes, der als Person nicht wahrgenommen wird. Leicht könnte man ihn als schrulligen Sonderling abtun oder als bedauernswerten Einsamen, doch Leupold gelingt es, ihn mir als Leserin nahezubringen: Ich kann seine Gedanken und Gefühle nachvollziehen, und so gelingt es mir, eine Beziehung zu einem mir völlig Unbekannten aufzunehmen, der sich sonst der Nähe entzieht. Und da gibt es so viel zu entdecken: Herr Harald ist ein faszinierender Charakter, dessen innerer Reichtum in sprachlicher Feinsinnigkeit aufleuchtet. Gern würde ich noch mehr von ihm erfahren, auch von seiner Kindheit, aus der ihm hin und wieder Erinnerungen hochkommen, und natürlich auch, wie es weitergeht nach dem offenen Schluss.

Ich empfinde das Buch als anrührendes Plädoyer für stille, leise Menschen und als Aufforderung, auch sie als Persönlichkeit wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ein Lesegenuss, der auch nach der Lektüre weiterwirkt.

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2022.