Rezension

Emotional und voller Lebensweisheit

Niemand weiß, wie spät es ist - René Freund

Niemand weiß, wie spät es ist
von René Freund

Bewertet mit 4.5 Sternen

Des Vaters letzte Reise

" Und auch, wenn ich wie wir alle den Sinn nicht  erkennen kann, möchte ich auf den Sinn wetten. Das macht unser Leben einfach größer und erfüllter.

Als Nora Weilheim zur Testamentsverlesung ihres Vaters vorgeladen wird, muss sie sich mit einer ungewöhnlichen Bitte des Verstorbenen auseinandersetzen. Er hat verfügt, dass Nora unter notarieller Aufsicht eine Reise absolvieren muss, die sie quer durch Österreich führen wird und erst nach Erfüllung dieser Aufgabe, wird die Nachlassverfügung aktiv. Etwas missmutig gestimmt macht sich die junge Frau auf den Weg. Der ihr zugeteilte Begleiter treibt sie in seiner Spießigkeit an den Rand der Verzweiflung und wächst ihr doch nach und nach ans Herz. Doch noch bevor die beiden ihr Ziel erreicht haben, machen sie eine folgenschwere Entdeckung, denn Noras Vater bezweckt mit dieser organisierten Wanderung noch etwas ganz anderes ...

Dieser Roman überrascht mit einer humorvoll-traurigen Geschichte, die ebenso profan wie besonders ist. Eine durchaus realistische Ausgangssituation wird hier zur Bewährungsprobe und bewirkt eine charakterliche Veränderung samt Weiterentwicklung bei den Protagonisten.

Der Autor schickt die arbeitslose, chaotische Nora, die keine besonderen Lebenspläne hat und sich eher auf Sinnsuche befindet mit dem anscheinend organisierten, pedantischen und veganen Bernhardt auf eine ganz besondere Reise. Die Charaktere sind liebevoll und detailliert beschrieben, so dass man als Leser beide Figuren mag und ihre Kauzigkeit zu schätzen weiß.

Mittels Brief- bzw. Videobotschaften gibt Noras Vater die Etappenziele bekannt und offenbart in seinen posthumen Ansprachen viele Emotionen, gibt Dinge preis, von denen seine Tochter nichts wusste und erzählt von der großen Liebe zu seiner frühzeitig verstorbenen Frau, Noras Mutter. Gerade diese Sequenzen haben viele philosophische Denkansätze und zeugen von Lebenserfahrung und großer Liebe. Der Transfer an den Leser gelingt hier mühelos.

Zeitweise verläuft die Geschichte etwas handlungsarm, gewinnt aber durch eine unerwartete Wendung in den Beziehungsverhältnissen zwischen Nora und ihrem Begleiter wieder an Schwung und Aussagekraft, so dass ein rundherum gelungener Wohlfühlroman entsteht, der direkt aus dem Leben gegriffen scheint.

Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diese herzliche, direkte und emotionale Geschichte, die mich mit humorvollen Sequenzen, tiefen Wahrheiten und traurigen Erkenntnissen überzeugen konnte. Eine Geschichte, die davon erzählt, wie wichtig es ist, offene und aufrichtige Beziehungen zu führen, wie bedeutsam die Liebe für den Menschen sein kann und auch, dass es niemals zu spät ist, über seine Verfehlungen nachzudenken und einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Das Thema Trauer wird hier nicht stilisiert sondern als eine Möglichkeit geschildert, die sich bietet, um Resümee zu ziehen. Sehr ehrlich, sehr wahr und absolut lesenswert.