Rezension

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Familiäre Outtakes der Britischen Geschichte

Bournville -

Bournville
von Jonathan Coe

Bewertet mit 3 Sternen

Bournville ist ein Stadtteil Birminghams, berühmt für seine Cadbury Schokolade und die Heimat von Mary Lamb (1934) mit der wir gemeinsam das Ende des Zweiten Weltkriegs feiern, die Krönung Queen Elizabeths begehen, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 1966 auf einem frisch erstandenen Fernsehapparat sehen, die Investitur und Hochzeit Charles miterleben und genauso um den Tod Dianas trauern, wie alle Briten. Die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes fanden am 08. Mai 2020 statt, da war das unsägliche Virus auch schon in Großbritannien angekommen und lässt Mary Lamb in Einsamkeit, ohne die Liebsten an ihrer Seite, an ihrem Aneurisma sterben.

Ihre Enkelin Lorna ist Musikerin und hat gerade noch letzte Auftritte in Österreich und Deutschland absolviert, bevor auch dort alle Lokalitäten geschlossen, Konzerte abgesagt wurden und das gesellschaftliche Leben völlig zum Erliegen kam. Das große C führt mit Hamsterkäufen von Klopapier in den Roman ein und schließt ihn mit den grausamen Konsequenzen des Lockdowns ab.

Das Britische Understatement begleitet uns also von 1945 bis 2020 und Familie Lamb lässt uns mit seiner weitverzweigten Verwandschaft (es gibt einen Familienstammbaum im Vorsatz) an allen Befindlichkeiten und Eigenarten teilhaben. Es sind also nicht nur deutsche Vorfahren die nach Kriegsende einen misstrauisch beäugten Stand hatten, sondern auch die eingeheiratete schwarze Schwiegertochter, die geflissentlich umgangen wird. Da mag der schwule 3. Sohn sich kaum outen, da "solche Männer das Allerletzte sind". Überhaupt trifft in dieser Familie Tradition auf Weiterentwicklung und man muss die Nachkriegsschokolade mit weniger Kakaobutteranteil in der Europäischen Union verteidigen, weil es doch die urbritische Quäkerfamilie Cadbury war, die auch in harten Zeiten für ihre Mitarbeiter da war.

In den Höhepunkten aus Krönungen und Hochzeiten der Königsfamilie gehen die Missstimmungen zwischen Wales und England, der EU und Großbritannien fast unter und der spannende Abzweig der walisischen Urlaubsbekanntschaft Sioned bekommt wenig Gewicht. Dabei sind es genau diese kurzen Passagen, die mich als Leserin interessiert hätten, anstatt ganze Abschnitte von gut dokumentierten Reden und Abläufen serviert zu bekommen. Die zeitlichen Abläufe hätten sich gut nachvollziehen lassen, wird doch jeder der 7 Kapitel mit einem Datum verknüpft, doch springt der Autor innerhalb seiner Erzählung vor und zurück und Druckfehler irritierten dann doch. Auch Satzstellungsfehler, die vermutlich bei der Übersetzung passiert und im Lektorat nicht bemerkt wurden, hinterließen bei mir nur das Gefühl der Verärgerung und Ungeduld.

Der, von mir oft konsultierte Stammbaum am Anfang deutet darauf hin, dass es wohl noch weitere Geschichten aus dieser fiktiven Familie, in der nur Mary Lamb eine Anlehnung an Coes Mutter ist, gibt, doch fehlt mir jetzt das Vertrauen auf gehaltvollere Romane, die mich auch hinter die Kulissen schauen lassen würden. Dieses weder-Fisch-noch-Fleisch-Werk hatte seine guten Momente und ließ sich flott lesen, hatte aber auch seine augenfälligen Fehler, die meinen Genuss geschmälert haben.

Meine Erwartungen an einen Bestseller-Autor haben sich nicht erfüllt, doch möchte ich mir auch ins Gedächtnis rufen, dass unser aller Gedanken nach der Pandemie neu sortiert und bewertet werden müssen. Der wirtschaftliche Druck lastet auf uns allen, doch sollte Kritik weiterhin erlaubt sein.