Rezension

Figuren mit Ecken und Kanten

Die Lüge -

Die Lüge
von Mikita Franko

Bewertet mit 5 Sternen

Mikita Frankos Roman „Die Lüge“ ist ein beeindruckender Debutroman des russischen Autors, den er bereits mit Anfang 20 geschrieben hat.

Mikita ist die Hauptfigur in Frankos Buch. Als er fünf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Er wächst bei seinem gerade Mal 16 Jahre älteren Onkel Slawa auf, der ihn adoptiert.

Der Buchtitel „Die Lüge“ ist freilich nicht besonders gelungen. Bei dem Roman handelt es sich um einen klassischen Entwicklungsroman. Mikita wird erwachsen, er rebelliert gegen seine Umwelt, prügelt sich, läuft von zuhause weg, verliebt sich. Die Lüge ist das, was Mikita nicht erzählen darf: dass sein Onkel mit einem Mann zusammenlebt, denn sonst würde Mikita in Russland im Kinderheim landen. Die Lüge gehört für Mikita zum Erwachsenwerden, ist aber nur ein Teil davon. Viel wichtiger ist die Väter-Sohn-Beziehung, ebenso die Auseinandersetzung mit sich selbst. Natürlich kann man sagen, dass die „Lüge“ das alles überlagert, doch trifft dies nicht den Erzählstil des Buches.

Erzählt wird das Erwachsenwerden durchweg aus der Sicht von Mikita. Das ist gut so, denn Mikita ist eine Figur, an der man sich reiben kann. Er streitet sich mit seinen Eltern, ist trotzköpfig, vorwurfsvoll. Später dann ist er in sich zerrissen, überheblich, widersprüchlich, wird gewalttätig. Mikita ist eine Figur, die gerade durch ihre inneren Widersprüche lebendig wird. Und das hat bei Mikita Franko auch eine sehr humorvolle Seite. Die zeigt sich vor allem in den teilweise recht grotesken Dialogen. Beispiel gefällig? Hier der Dialog zwischen Katja und Mikita:

„Warum stehst du nicht auf?“
„Ich weiß nicht.“
„Komm, wir gehen.“
„Nein, ich will nicht, fauchte ich sie lustlos an. „Ich mag es, in den Schnee zu schauen.“
„Bist du verrückt, oder was?“
„Ich weiß nicht.“
„Ich gehe dann mal.“
„Geh.“
Sie war schon ein Stück weggefahren, kam aber wieder und sagte, dass ein normaler Mensch nicht so auf dem Eis rumliegen und in den Himmel glotzen würde.

Mikita Franko gelingt es so, bei aller Ernsthaftigkeit und Traurigkeit des Themas, immer wieder einen humorvollen Unterton zu setzen. Zu Lasten seiner Figuren geht das nicht.

Der Roman wirkt über weite Strecken episodenhaft, einzelne Szenen werden herausgestellt, anderes bleibt offen – etwa die Frage, ob die Familie noch emigriert oder nicht. Auch die Verbindung zwischen Mikita und Wanja bleibt sehr rudimentär, was umso erstaunlicher ist, da es Mikita ist, der sich in einem Kinderheim mit Wanja anfreundet und dafür sorgt, dass er von Slawa adoptiert wird.

Aber gerade das macht das Buch aus: dass nicht alles auserzählt ist, dass Widersprüche bleiben und dass die Figuren ihre Ecken und Kanten haben.