Rezension

Großartiger Klassiker und völlig unverstaubt

Krieg und Frieden - Lew Tolstoi

Krieg und Frieden
von Lew Tolstoi

Bewertet mit 5 Sternen

Was als mit über 2.000 Seiten als sehr sportliche Herausforderung begann, war für mich ganz schnell ein großes Lesevergnügen. Beginnend im Jahre 1805 führt uns Tolstoi in die gehobene bürgerliche Gesellschaft Russlands ein. Diners, Empfänge, Bälle prägen das Bild des alltäglichen Lebens. Ränke werden geschmiedet, Ehen angebahnt, um den aufwendigen Lebensstil finanziell abzusichern. Parallel dazu ziehen Russland und Frankreich gegeneinander in den Krieg. Bis ins Jahr 1812, in dem Napoleon mit seinen Truppen schließlich in Moskau einzieht und in dessen Folge die zu derzeit größten Teils aus Holz bestehende Stadt nahezu  komplett niederbrennt, kämpfen Napoleon und der russische Kaiser mit wechselnden Verbündeten gegeneinander und der Leser schlüpft für diese Zeit in die Rolle des Zuschauers.

Wie man das von einem russischen Klassiker erwarten kann, zeichnet Tolstoi für sich selbst sprechende Bilder, die manchmal schon fast groteske Gegensätze zur Handlung annehmen. Ein Blick auf das Schlachtfeld: „Es war dasselbe Panorama, das er am vorhergehenden Tag von diesem Hügel aus mit lebhaftem Interesse betrachtet hatte; aber jetzt war dieses ganze Terrain von Truppen und den Rauchwolken der Schüsse bedeckt, und die schrägen Strahlen der hellen Sonne, die links hinter Pierre emporstieg, breiteten in der reinen Morgenluft ein scharfes Licht mit einem goldig-rötlichen Schimmer darüber aus und ließen lange, dunkle Schatten entstehen. Die fernen Wälder, die das Panorama abschlossen, sahen aus, als wären sie aus einem kostbaren gelblichgrünen Stein geschnitten, und zeichneten sich mit der geschweiften Umrißlinie ihrer Wipfel am Horizont ab; und zwischen ihnen zog sich hinter Walujewo die große Smolensker Landstraße dahin, die ganz mit Truppen bedeckt war. … Zu diesem Nebel gesellte sich der Rauch der Schüsse, und in diesem Nebel und Rauch blitzten überall die Reflexe des Morgenlichtes: hier auf dem Wasser, da im Tau, dort an den Bajonetten der Truppen, die sich an den Ufern und in Borodino drängten. Durch diesen Nebel hindurch wurde die weiße Kirche von Borodino sichtbar, stellenweise auch Hausdächer, dichte Massen von Soldaten, grüne Munitionskasten, Geschütze. Und alles dies bewegte sich oder schien sich zu bewegen, weil Nebel und Rauch über diesen ganzen Raum sachte hinzogen.“

Tolstoi verbindet die Handlungsstränge geschickt und ergänzt diese sehr informativ mit historischen, taktischen und philosophischen Betrachtungen. Das fasst an mancher Stelle das Geschehen nochmals zusammen und macht den Standpunkt Tolstois fünfzig Jahre nach den Ereignissen deutlich.

Was in „Krieg und Frieden“ fast gänzlich fehlt, ist das einfache Volk. Nur ganz im Rande der Handlung tauchen hier und da Bauern auf. Auch die Szenen des fortwährenden Krieges beschreiben fast ausschließlich das Leben der Offiziere. Insofern gibt das Werk nur einen Teil des Lebens wieder. Menschen sind grausam auf dem Schlachtfeld gestorben, die Zivilbevölkerung hat unter Hunger und Krankheiten gelitten. Diese Aspekte sind Tolstoi aber nicht mehr als Randbemerkungen wert und die Sicht recht einseitig gehalten. Wiederum kann man sicher davon ausgehen, dass der Roman, der 1869 erstmals veröffentlich wurde, auch nur für eine bestimmte Zielgruppe gedacht sein konnte, die sicher kein Interesse am Elend der einfachen Bevölkerung hatte.

Sei es drum, von mir gibt es für „Krieg und Frieden“ eine klare Leseempfehlung. Gäbe es einen zweiten Teil, würde ich schon längst damit auf der Couch liegen. ;-)