Rezension

Intelligent geschriebene Genremischung (Roman, Dystopie, Gesellschaftskritik), die zum Nachdenken anregt!

New York Ghost -

New York Ghost
von Ling Ma

~ „New York Ghost” ist ein intelligent geschriebener Roman, der ganz anders war, als ich ihn mir vorgestellt hatte – aber trotzdem auf seine Weise gut und unterhaltsam. Das Buch ist ungeschönte Dystopie, tiefgründige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und literarische Milieustudie (Großstadtleben, junge Erwachsene, Migration) in einem. Ling Ma hat ein Werk geschrieben, das zwar keine Hochspannung bietet, uns aber dafür zum Nachdenken anregt – und ist das nicht viel wichtiger? Schließlich ist es doch genau das, was uns von den Zombies in der Geschichte unterscheidet… ~

Inhalt

Candace, Angestellte in einem Verlagshaus, arbeitet auch dann noch hingebungsvoll weiter, als immer mehr Leute aufgrund einer tödlichen und hochansteckenden Pilzinfektion krank werden oder aus Angst aus der Stadt fliehen. Irgendwann ist sie die einzige Überlebende im ganzen Bürokomplex - vielleicht sogar in der ganzen Stadt. Das Einzige, was ihr Halt gibt: ihr Blog „NY Ghost“, auf dem sie den Verfall der Metropole dokumentiert…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel

Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Liebeskummer, Trauer, Suizid, Medikamentenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, Blut, Gewalt, Schwangerschaft
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

 

Meine Rezension

„Alles andere konnte den Bach runtergehen, aber nicht New York. Seine glänzenden, reflektierenden Oberflächen und die geldgetränkte Umgebung erschienen unverwundbar.“ E-Book, Position 3722

Der Klappentext (Dystopie, Großstadt, Pilzinfektion wie bei einem meiner absoluten Lieblingsvideospiele, „The Last of Us“ ♥) hat mich in Kombination mit den begeisterten Rezensionen der Buchkritik sehr neugierig gemacht. Zuerst dachte ich trotzdem noch, der Roman wäre ein absoluter Geheimtipp, weil er in einem kleinen Verlag erschienen ist und ich ihn nur selten auf Bookstagram gesehen habe. Dann wurde ich aber mit einem gewissen Nachdruck darauf hingewiesen, dass „New York Ghost“ ein absolutes Hype-Buch gewesen ist und ich wahrscheinlich die Einzige bin, die es noch nicht gelesen hat. Spätestens jetzt führte für mich kein Weg mehr an diesem Werk vorbei!

Lasst uns zuerst die wichtigste Frage klären: Habe ich das bekommen, was ich mir erhofft habe – eine tiefgründige, literarische Dystopie? Leider nicht wirklich, denn irgendwie ließ der Klappentext gemeinerweise unter den Tisch fallen, dass dieses Buch zu ca. 75% aus Rückblenden von VOR der Pandemie besteht. Die Lektüre gestaltete sich also ganz anders als erwartet und ich hätte sicher nicht zu diesem Werk gegriffen, wenn ich das gewusst hätte. Aber war das Buch trotzdem gut? Ja, zum Glück!

„New York Ghost” hat bereits einige Preise abgeräumt und wurde von vielen Zeitschriften zu einem der besten Bücher des Jahres (2018/2019) ernannt – und schon auf den ersten Seiten wird klar, warum: Dieser Roman ist sprachlich elegant, sehr intelligent, tiefgründig und stellenweise auch fordernd geschrieben, enthält teils satirisch verpackte Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und beleuchtet auf einfühlsame und treffende Weise sowohl Migration als auch unsere Konsumgesellschaft und das Leben junger Erwachsener in einer Großstadt.

„Sie spendeten an Non-Profit-Organisationen, die sich gegen Niedriglohnfabriken in südostasiatischen Ländern einsetzten, obwohl sie diese nutzten. Ein Vorgehen, das ein raffiniertes Verständnis der globalen Wirtschaft zeigte.“ E-Book, Position 2230

Besonders interessant fand ich Ling Mas Entwurf der „Zombies“ – es sind hier keine blutrünstigen Monster, sondern friedliche Geschöpfe, die ohne Unterlass altbekannte Routinen ausführen, die zum Beispiel immer wieder den Tisch decken, immer wieder die Wäsche zusammenlegen oder die Blumen gießen, während sie langsam körperlich verfallen, weil sie nichts mehr essen und sich nicht mehr um sich selbst kümmern. Vermutlich eine Anspielung auf unseren oft „hirnlosen“, gierigen Konsum und den immergleichen Alltag im Hamsterrad. Wer sich die Zeit nehmen will – zu analysieren gäbe es hier jedenfalls genug! Mich überzeugten die dystopischen Passagen in der Gegenwart jedenfalls auf ganzer Linie, da die Autorin hier nichts beschönigt und dort knallhart und grausam gelitten und gestorben wird. Gerade deshalb finde ich es schade, dass diese Abschnitte nur so wenig Raum im Buch einnehmen. Auch die Protagonistin konnte mich mit ihrer unerschütterlichen, nachdenklichen, irgendwie seltsamen Art (zu der sie steht, was ich wundervoll finde!) für sich einnehmen. Ich fand sie sehr sympathisch und habe sie gerne durch die Geschichte begleitet – gerne hätte ich das auch noch länger getan, aber dazu später mehr.

„Es ist so still, ich könnte durch die Risse einer solchen Stille fallen.“ E-Book, Position 3917

Probleme hatte ich (neben den etwas blass bleibenden Figuren) vor allem mit den langen Rückblenden voller Arbeitsalltag, Shopping-Orgien und Hautpflegeprodukte. Ich bin ohnehin kein großer Fan von Rückblenden und da ich mich für diese Themen einfach so gar nicht interessiere, habe ich mich bei diesen Passagen dann schon manchmal gelangweilt; ich fand sie einfach langatmig und kam nur schleppend voran. Trotzdem gab es auch hier immer wieder interessante Stellen, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Richtig interessant wurde es für mich erst dann wieder, als die Menschen nach und nach New York verlassen und Candace atmosphärisch beschreibt, wie sich die eigentlich so volle und laute Metropole immer weiter leert – bis sie das Gefühl hat, der letzte Mensch dort zu sein. Eine unheimliche Vorstellung, die sich beim Lesen einfach so falsch anfühlte!

Aus feministischer Sicht bin ich mit diesem Buch leider auch nicht rundum zufrieden, weil es eine sehr klischeehafte Rollenverteilung in der Gegenwart gibt – wohl auch bedingt durch den konservativen, religiösen Anführer der Gruppe Überlebender, aber trotzdem. Warum bekommen die Männer die Waffen und die Frauen sammeln dann in gesichterten Häusern die Waren ein? Das geht 2023 besser! Etwas besänftigt haben mich dafür die auf ihre eigene Art starke, intelligente Hauptfigur und die fehlenden sexistischen Beleidigungen. Das Ende würden manche vielleicht als „eigenwillig“ oder „gewagt“ bezeichnen – ich nenne es „Frechheit“! ;) Ich habe nichts gegen offenere Enden, aber was uns da serviert wird… Gerade als es richtig spannend wird, bricht die Geschichte abrupt ab – als Leser:in wird man ziemlich unhöflich im Regen stehen gelassen. Vielen Dank auch!

Mein Fazit

„New York Ghost” ist ein intelligent geschriebener Roman, der ganz anders war, als ich ihn mir vorgestellt hatte – aber trotzdem auf seine Weise gut und unterhaltsam. Das Buch ist ungeschönte Dystopie, tiefgründige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und literarische Milieustudie (Großstadtleben, junge Erwachsene, Migration) in einem. Ling Ma hat ein Werk geschrieben, das zwar keine Hochspannung bietet, uns aber dafür zum Nachdenken anregt – und ist das nicht viel wichtiger? Schließlich ist es doch genau das, was uns von den Zombies in der Geschichte unterscheidet…

Bewertung

Cover / Aufmachung: 2 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Ende: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 2 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 3 Sterne
Einzigartigkeit: 5 Sterne ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Sterne!