Rezension

Kein Geheimnis, kein Schauer

Die Frau, die es nicht gab - Maggie O'Farrell

Die Frau, die es nicht gab
von Maggie O'Farrell

Bewertet mit 2 Sternen

Iris Lockhart ist eine unabhängige junge Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Nichts deutet darauf hin, dass ein dunkles Familiengeheimnis ihren Alltag erschüttern könnte. Bis Iris in einem Brief aufgefordert wird, ihre Großtante Esme Lennox aus einer psychiatrischen Anstalt abzuholen, da das Haus geschlossen wird. Iris hat jedoch keine Großtante – erst recht keine, die seit über sechzig Jahren wie eine Gefangene lebt. Aber das vermeintliche Missverständnis entpuppt sich bald als erster Hinweis auf ein Familiendrama, das im Edinburgh der 30er Jahre begann.

Iris besitzt einen Second-Hand-Modeladen und einen verheirateten Liebhaber; ihr Vater ist verstorben, die Mutter ausgewandert. Als einzige Familienangehörige leben in ihrem Umfeld nur ihr Stiefbruder Alexander, zu dem sie eine mehr als innige Beziehung hat, und ihre Großmutter Kitty als Alzheimer Patientin im Pflegeheim.

Dass viele Gesundheitssysteme marode sind und dass die Kommunikation mit den Behörden oft im Argen liegt, ist mir bekannt. Dass aber eine alte Frau, die 60 Jahre ihres Lebens in der Psychiatrie verbrachte, davon eine Zeitlang in der Geschlossenen, von heute auf morgen entlassen wird, nur weil das Krankenhaus aufgelöst wird … ohne dass eine Übergangslösung gesucht wird, ohne umfassendes ärztliches Gutachten und ohne Betreuung.
Ein unglaubwürdiges Szenarium als Ausgangspunkt einer Romanhandlung – kann daraus noch ein gutes Buch entstehen?

Doch dies bleibt nicht die einzige Unglaubwürdigkeit: Kitty erinnert sich in ihren wachen Phasen an Details der gemeinsamen Kindheit mit Esme, der totgeschwiegenen Schwester, und soll die ganzen Jahre lang kein einziges Mal deren Namen genannt haben? Nichts ausgeplappert vom großen Familiengeheimnis, obwohl sie in Selbstgesprächen ständig in der Vergangenheit lebt?

Man kann sagen: Die Autorin hat die Elemente des Schauerromans genommen und ans grelle Tageslicht befördert, so dass weder Schauer noch Geheimnis bleiben. Das, was als großes Rätsel aufgebaut wird, errät der Leser nach wenigen Seiten. Man liest nur noch weiter, um zu sehen, ob es tatsächlich so simpel ist wie man denkt. Leider ist es so.
Und dann hört das Buch mitten in einer Szene auf. Man weiß zwar, was unmittelbar zuvor geschehen ist, und Mr Right ist auch schon auf dem richtigen Weg, aber                                                                (<--- so ähnlich)

Keine Empfehlung.

Kommentare

Brocéliande kommentierte am 20. September 2016 um 16:35

Dieser Buchbeschreibung kann ich mich ganz und gar nicht anschließen: Ich bewerte mit 4,5 Sternen und finde es ganz hervorragend, nicht vorhersehbar - stilistisch anspruchsvoll ("Gedankenfetzen", die es zu entschlüsseln gilt) und stimmig in sich:

Es erinnerte mich ein wenig an "Die Mauern von Willard State" (Ellen Marie Wiseman) und es ist durchaus glaubwürdig, dass in den 20er und 30er Jahren reihenweise Frauen, die der sog. "Hysterie" verfallen waren, sich also nicht in ihr Schicksal (Ehe z.B.) "fügen" wollten oder der Familie anderweitig zur Last wurden, kurzerhand eingewiesen wurden in psychiatrische Einrichtungen, aus denen viele Jahrzehnte nicht mehr herauskamen...

Ich gebe eine absolute Leseempfehlung, da diese Familientragödie auch spannend und hochemotional sowie stilistisch sehr souverän und nachvollziehbar, durchaus glaubwürdig, geschrieben wurde. Ich werde mir weitere Romane von Maggie O'Farrell ansehen und vergebe für diesen Roman 4,5 Sterne und 95° auf der Richterskala.