Rezension

Kopflastig. Unterkühlt. Weitausholend.

Der Fluch des Imperiums -

Der Fluch des Imperiums
von Martin Schulze Wessel

Bewertet mit 3 Sternen

Hochschulprofessoren müssen sich mehr anstrengen, wenn sie nicht an der Uni Seminare abhalten, sondern fürs breite Publikum schreiben.

Der Autor dröselt die gesamte Geschichte Russlands auf, zwar (fast) immer im Hinblick auf Russlands imperiale Ansprüche, aber manches Mal ist dieser Zusammenhang nur immanent, nicht offensichtlich! Warum interpretiert der Autor nicht zwischendurch und macht dadurch seinen Standpunkt klar, seinen Fokus scharf?

Ob es die Zaren waren oder die Sowjetunion, die russischen autokratischen (wechselnden) Regierungen Moskaus sahen ihre Sicherheitsinteressen nur dann gewahrt, wenn sie ihre Nachbarstaaten unter die Knute nahmen. Die Sowjetunion besteht/bestand aus vielerlei angegliederten Staaten mit russischer oder russischähnlicher Ethnie, Russland bezeichnet nur das Kernland selber; das im Prinzip groß genug wäre und prosperieren könnte, wenn sich die Regierung auf innere Angelegenheiten konzentrieren würde. Aber Russland will eine Hegemonialmacht bleiben und hat,  aus diversen Gründen, seine Ansprüche darauf „das benachbarte Ausland“ in irgendeiner Weise unter die russischen Flügel zu nehmen, niemals aufgegeben. 

Besonders Polen hatte unter der russischen Vormacht-Vorrang-Ideologie zu leiden. Dreimal wurde es geteilt und zerstückelt und unter der „Heiligen Allianz“, bestehend aus Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Die Außenpolitik Moskaus richtete sich lange Zeit daraufhin aus, mit Deutschland bzw. seinen Rechtsvorgängern gemeinsame Sache im Ostblock zu machen. Und heute noch, sagt der Autor, richtet sich die deutsche Politik lieber auf Moskau aus als zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit Kiew und anderen Regierungen im slawischen Raum ins Visier zu nehmen und russische Interessen (weitgehend) unberücksichtigt zu lassen.  

Die Rolle Litauens, Schwedens und Polens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert wird ins Zentrum des Textes gerückt. Deren Rolle im 19. Und 20. Jahrhundert ist bestimmt den meisten Lesern nicht präsent. Diese Staaten haben ein enormes Interesse daran, nicht wieder in den Einflussbereich Moskaus zu geraten; zu blutig haben sie für ihre Unabhängigkeit bezahlt.

Der Kommentar: 
Erst auf den allerletzten paar Seiten geht der Autor direkt auf sein Thema und die Gegenwart ein. Diese paar Seiten sind sehr aufschlussreich und der Grund, warum ich das Buch lesen wollte. Mich vorher durch die gesamte Geschichte Russlands quälen zu müssen, ging aus dem Titel nicht hervor. Sicherlich braucht man ein gewisses Vorwissen, um zu verstehen, warum Russland/Moskau so vehement darum ringt – vielleicht bis zur Selbstaufgabe, - die Ukraine „heim ins Reich zu holen“. Paradox ist es, wie rassistisch und faschistisch das Denken in Russland ist; auch der Bürger, nicht nur der Regierung, in einem Land, das doch seine Kriege damit begründet, Antifaschistisches zu bekämpfen. Großrussen sind die Herrenmenschen; Kleinrussen stehen darunter, weitere nachfolgende Rangordnungen. Erinnert an den Nationalsozialismus.

Der Stil
Der Stil dieses Buchs hat mir indes nicht besonders zugesagt; er ist einerseits hochschulpofstyle, obwohl durch diverse Relativsätze Bemühen erkennbar ist, verständlich zu schreiben, andererseits unterkühlt und weit ausholend. Interpretation wagt der Autor erst am Ende. Und das ist zu spät. Warum nicht den Seminarton verlassen? Warum nur faktenlastig, warum so wenig Standpunkt?

Was mir niemand erklärt, ist, wie sich die Russen denn von den Ukrainern unterscheiden. Ja, die Sprache. Aber inwieweit ist es eine andere Kultur? Keiner der sich mit dem Konflikt Russland/Welt beschäftigt, hat mir dies bisher erklärt. 

Was besonders negativ zu Buche schlägt, ist das eigensinnige Beharren des Autors darauf, jeden Eigennamen, ob Ort oder Person mit den Akzenten und Satzsymbolen des Ursprungslandes zu schreiben; so erkennt man oft sogar bekannte Personen der Zeitgeschichte kaum mehr oder hätten Sie gewusst, dass Chruščev identisch mit Chruschtschow ist und man Oles Hončar als Oles Hontschar bei uns in den Lexika findet? Einzelne kann man erraten; aber es gibt eine Unzahl an Personen- und Ortsnamen - mit der Zeit wird das "Erraten- und Entziffernmüssen" von Orts- und Personennamen wirklich mühsam.

Ich verstehe das Anliegen: Respekt. Aber wo bleibt der Respekt vor der deutschen Leserschaft, der man einen sowie so schon nicht leicht zugänglichen Text weiterhin erschwert? Sollen denn Menschen in Deutschland sämtliche Sonderzeichen aller Alphabete in der Welt beherrschen? Wüsstest ihr, was zum Bespiel Frankreich und die Türkei aus einheimischen Namen machen, werte Autoren, würdet ihr diesen Unsinn alsbald wieder lassen! Ärger!

Fazit: Den Zusammenhang, Schweden, Litauen, Polen, Ukraine kannte ich nicht. Ich habe also etwas gelernt. Aber mehr noch habe ich mich geärgert. Über Unnötiges Erschweren der Lektüre. Gendern habe ich noch gar nicht erwähnt, und das nicht einmal konsequent, sondern beliebig. Ergibt insgesamt wegen des Fachwissens des Autors noch gute 3 Punkte. 

Verlag: C.H. Beck, 2023
Kategorie. Sachbuch. Geschichte. 

Kommentare

Emswashed kommentierte am 06. Juli 2023 um 21:34

Oi, oi, oi, das hört sich ganz danach an, als ob hier jemand sein Fachwissen nicht nur zum Besten gibt, sondern gleich derart verschlüsselt, dass auch keine Zweifel daran auftauchen können. Schwierig! Du hast mein vollstes Mitleid.

wandagreen kommentierte am 06. Juli 2023 um 23:53

Verschlüsselt wäre nun auch übertrieben.

Emswashed kommentierte am 07. Juli 2023 um 08:21

Zumindest manche Namen waren "verschlüsselt". So mancher von den "bösen Jungs" nutzt diese ganze Namensgebungssache noch für ganz andere Zwecke. Da reagiere ich allergisch. (Mir reicht schon Harry und Henri ;-))

Steve Kaminski kommentierte am 10. Juli 2023 um 15:32

Mit den Namen, das kommt mir schon extrem und übertrieben vor. Chruščev - im Zusammenhang wird man vielleicht drauf kommen, aber sein muss es nicht.