Rezension

Liv und Karoline - zwei Frauen auf der Suche

Das Lied des Nordwinds - Christine Kabus

Das Lied des Nordwinds
von Christine Kabus

Bewertet mit 5 Sternen

1905. Nachdem sie vor 9 Jahren die Hochzeit mit dem feschen adligen Sproß Moritz von Blankenburg-Marwitz gar nicht abwarten konnte, ist sie nun ernüchtert auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Ihr Ehemann ist nie daheim, sondern vergnügt sich lieber aushäusig, während sie den harten Worten ihrer dominanten Schwiegermutter Alwina ausgesetzt ist, die ihr ständig das Gefühl eines Eindringlings gibt. Dabei ist die Familie schon lange bankrott und kann sich nur mit Hilfe von Karolines vermögenden Eltern über Wasser halten. Als Moritz unheilbar erkrankt zurück auf Schloss Katzbach ist und Karoline durch Zufall erfährt, dass er bereits ein uneheliches Kind in Norwegen hat, macht sie sich mit Hilfe ihrer besten Freundin Ida auf die Reise, um dieses Kind zu finden. Doch nicht nur sie macht sich auf die Suche…

Die minderjährige Liv tritt in Stavanger eine Stelle als Dienstmagd im Haushalt der Familie Treske an, um mit dem Geld ihre arme Familie zu unterstützen. Ihr Dienstherr ist ein harter Mann, der seinen 9-jährigen Sohn Elias bei jeder Gelegenheit demütigt und in die Knie zwingen will. Ehefrau Ingrid hat mit der neugeborenen Tochter genug um die Ohren und auch nicht die Kraft, sich gegen ihren Ehemann aufzulehnen. Liv hat Mitleid mit dem Jungen und nimmt sich seiner an, die beiden werden langsam Freunde. Durch Zufall erfährt Liv, dass Elias von den Treskes adoptiert wurde. Als der Vater Elias bei einem erneuten Fehlverhalten in ein Erziehungsheim stecken will, flieht Liv mit dem Jungen, um seine leiblichen Eltern zu suchen. Dabei bekommen sie Hilfe von Bjarne, einem jungen Mann, mit dem sich Liv angefreundet hat…

Christine Kabus hat mit ihrem Buch „Das Lied des Nordwinds“ einen wunderschönen historischen Roman vorgelegt, der von der ersten Seite an begeistert und den Leser erneut nach Skandinavien entführt. Die Liebe der Autorin zu Land und Leuten in den nordischen Ländern ist dabei in jeder Zeile zu spüren. Der Schreibstil ist flüssig, gefühlvoll und farbenfroh, der Leser wird regelrecht in die Geschichte hineingesogen und findet sich mal an der Seite von Karoline, mal an der von Liv wieder, um beide Frauen ein Stück ihres Lebens zu begleiten und dabei ihre Gedanken, Gefühle und Träume kennenzulernen. Die Handlung wird aus zwei verschiedenen Perspektiven, die zur gleichen Zeit stattfinden erzählt, zum einen erfährt man etwas über Karolines Leben in Deutschland, die andere Sicht zeichnet den Alltag von Liv in Norwegen auf. Der Spannungsbogen ist zu Beginn noch recht niedrig, steigert sich aber schon bald immer mehr in die Höhe, je weiter die Geschichte voranschreitet. Die Landschaftsbeschreibungen sind bildgewaltig und detailliert, das raue Norwegen entsteht ebenso vor dem inneren Auge wie Schloss Katzbach in Deutschland oder Idas Heimat Breslau. Die Autorin hat den geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund sehr gut recherchiert und lässt den Leser an der politischen Situation zwischen Norwegen und Schweden teilhaben, die sich während der Handlung zuspitzt. Gleichzeitig bekommt der Leser viele Informationen die Frauenbewegung, die sich für die Gründung und Betreibung von Schulen für Bedürftige einsetzen und auch für das Wahlrecht für Frauen kämpfen.

Die Charaktere sind sehr unterschiedlich angelegt, besitzen aber alle wunderbar ausgearbeitete individuelle Eigenschaften, die sie sehr lebendig und realitätsnah wirken lassen. Karoline ist eine sympathische Frau mit dem Herz am rechten Fleck, allerdings ist sie in ihrer Ehe einsam und träumt  sich deshalb mit Groschenromanen in eine fremde Welt. Sie kann sich ihrer Schwiegermutter nicht wiedersetzen und lässt sich beleidigen und schikanieren. Es fehlt ihr an Durchsetzungskraft und Mut, dies zu erlangen. Doch Karoline weiß um ihre Unzulänglichkeiten und macht sich daran, diese endlich abzustellen. Dabei ist ihre Freundin Ida eine gute Unterstützung. Ida ist nicht auf den Mund gefallen und muntert nicht nur auf, sondern sagt ihrer Freundin durch die Blume auch die Wahrheit ins Gesicht. Sie gibt ihr den nötigen Schubs in die richtige Richtung, aber gehen muss Karoline den Weg allein. Frau Bethge ist eine resolute alleinstehende Frau, die Karoline schnell eine gute Freundin wird und ihr bei ihrer Entwicklung ebenfalls zur Seite steht. Karolines Wandlung innerhalb der Geschichte ist sehr schön gelungen. Liv ist eine junge Frau, die schon im Elternhaus kaum Liebe erfahren hat und mehr als Arbeitskraft oder Geldesel angesehen wurde. Sie hat ein gutes Herz, ist fleißig und nimmt sich schwächeren Kreaturen an, um diese zu unterstützen. Sie hat Träume und hofft auf ein wenig Liebe, sie ist intelligent, wenn es ihr auch nicht bewusst ist, doch sie wächst ebenfalls im Verlauf der Handlung aus sich heraus und geht Risiken ein, die sie sich vermutlich selbst nie zugetraut hätte, um geliebte Menschen zu schützen. Elias ist ein lieber Junge, der nicht verstehen kann, warum seine Eltern ihn nicht lieben, sondern ihn immer nur als lästiges Anhängsel betrachten. Bjarne ist ein sympathischer Mann, der sich den Konventionen nicht beugt, sich ihnen sogar in den Weg stellt. Auch die weiteren Protagonisten ergänzen mit ihrem Auftreten die Geschichte und machen sie wunderbar rund.

„Das Lied des Nordwinds“ ist ein unterhaltsamer und wunderbarer historischer Roman, der von der ersten Seite an zu fesseln weiß und sich als Pageturner entpuppt. Ein tolles Buch für alle, die sich gern in fremde Ländern entführen lassen und nicht genug von Familiengeheimnissen bekommen können. Absolute Leseempfehlung!!!