Rezension

Queere Figuren in alternativem historischen Szenario

She Who Became the Sun -

She Who Became the Sun
von Shelley Parker-Chan

Bewertet mit 3.5 Sternen

Als „das Mädchen“ 10 Jahre alt ist, sind Eidechsen eine Delikatesse und Bauernkinder Hunger gewohnt. Im Gegensatz zur unnützen namenlosen Tochter, die Wasser trägt und Feuer macht, hat ihr jüngster Bruder als glückbringendes 8. Kind einen Vornamen. Für ihn lohnt es, seine Zukunft von einer Wahrsagerin voraussagen zu lassen. Als Banditen Vater und Bruder töten, eignet sich die Tochter Chongbas Namen, seine Kleidung und die Weissagung an, sowie den für ihn lange geplanten Eintritt ins Kloster im Alter von 12 Jahren. Sie ist bereit, Zhu Chongbas Rolle auszufüllen und fällt bei ihrem Eintritt ins Kloster augenblicklich durch ihre Entschlossenheit auf. Der Abt hatte sich bereits damit unbeliebt gemacht, dass seine Novizen Lesen, Schreiben und Rechnen lernen; er ist der Meinung, dass Religion ohne Bildung nicht mehr genügt, um zukünftige Probleme zu lösen. Worin er die Fähigkeiten des (wegen geringen Alters und jahrelanger Mangelernährung) extrem kleinen „Novizen“ gesehen und wie er sie gefördert hat, darüber schweigt Shelly Parker-Chan sich leider aus.

6 Jahre später treffen wir den erwachsenen Mönch Zhu an, der mit seinem Gefährten Xu Da wie mit einem Bruder aufgewachsen ist, sorgsam darauf bedacht, keine Frauenarbeiten zu übernehmen, um nicht zu verraten, wie geschickt er darin ist. Zhu ist demnach eine Frau in Hosenrolle, die für Parker-Chens wissende Leser:innen mit weiblichem Pronomen genannt wird, von der Außenwelt jedoch als männlicher Mönch mit militärischer Karriere als Kommandeur gelesen wird. In dieser Rolle gerät Zhu in die Kämpfe zwischen mongolischen Besatzern und einheimischen Aufständischen, den „Roten Turbanen“. In der chinesischen Kultur war der Anblick von Eunuchen als drittem Geschlecht alltäglich, die entweder als geraubte Sklaven gewaltsam „entmannt“ wurden oder freiwillig, um Karriere bei Hofe machen zu können. Zhu war für ihre Zeitgenossen kein ungewöhnlicher Anblick, auch wenn ihre geringe Körpergröße auffällig auf Bauerntochter hinwies, da Männer und Söhne auch in Trockenperioden beim Essen stets die größeren Portionen beanspruchten. Mit Ma Xiuying/Jingzi trifft Zhu bald darauf auf eine Generalstochter, die bereits als Kind in den Haushalt ihres zukünftigen Ehemanns „Klein-Guo“ gegeben wurde. Ma und Guo leiden beide unter der Last ihrer Rollenzuschreibungen; sie und Zhu sind jedoch nicht die einzigen queeren Figuren in der historischen Duologie mit Fantasy-Anteil.

Die Handlung spielt im Zeitraum 1345-56 im Vorfeld der Ming-Dynastie, die von 1368 bis 1644 bestand. Der historische Hintergrund und die Idee, dass Zhu Yuanzhang, Rebellenführer der Aufstände gegen die Mongolenherrschaft bei den Roten Turbanen, eine Frau gewesen sein könnte, faszinieren mich, die Umsetzung als Roman hat mir weniger gefallen. Die Geheimnisse ihrer Figuren schützt die Autorin, indem sie die Handlung mit Zeitsprüngen und Schnitten vorantreibt und so die Entwicklung der Figuren und ihre Motive verbirgt. Der Abt entdeckt Zhus besondere Talente/sie soll sich selbst Lesen beibringen/Schnitt. 10 000 Soldaten sollen vom Feind unbemerkt über einen Fluss gebracht werden/Zhu handelt/Schnitt. Zhu kann nicht reiten/sie „klettert“ auf ein Pferd/wieso steigt sie nicht auf?/usw. In „Aha-Momenten“ werden mit zeitlichem Abstand einige der Rätsel durch einzelne Stichworte gelöst. Bei ungewöhnlichen Figuren, deren Gedanken ich gern verfolgen möchte, genügt mir das nicht.

Gestört hat mich hier (wie ähnlich bei Guy Gavriel Kay), dass Autorin/Lektorat/Übersetzer nur schwer die westliche Brille ablegen können (Humor, der sich an westliche Leser der Gegenwart richtet, moderne Redensarten, nicht sinngemäße Übersetzung), so dass Logikfehler entstehen. Im Deutschen sind Tusche und Tinte keine Synonyme; wenn einer Figur nachgesagt wird, dass sie ihre Buchführung mit Pinsel und Tinte schreibt, führt das zu einer – evtl. von der Autorin ungewollten – Wertung. Schreiben mit Pinsel und Tusche hinterlässt zwar fühlbare Spuren auf Papier, aber keine Abdrücke.

Ein Personenverzeichnis und Sacherläuterungen wären wünschenswert, die ebook-Ausgabe hat keine.

Fazit

Mit queeren Figuren, Krieg, Bruderzwist, Liebe, Rache und sich abzeichnenden übernatürlichen Fähigkeiten bietet Shelly Parker-Chan großes Kino, in dem ich jedoch literarische Mittel vermisst habe. Wer mit der queeren New Adult-Handlung vor farbenfrohem Hintergrund zufrieden ist, kann hier zugreifen, ein Interesse an Figurenentwicklung und der kulturellen Begegnung zwischen Reitervolk und Bauernvolk wird weniger bedient.

Zum Genre: Bisher liegt ein Genre-Mix aus Young Adult, historischer Fantasy und alternativer Weltgeschichte vor. Evtl. kann die Einordnung nach Erscheinen des zweiten Bandes verändert werden.