Rezension

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skurrile dystopische Zukunftsvision mit außergewöhnlichem Schreibstil

Der Vorweiner -

Der Vorweiner
von Bov Bjerg

Bov Bjerg war für mich bereits ein Geheimtipp, weil ich "Auerhaus" geliebt habe. Mit "Auerhaus" hat "Der Vorweiner" jedoch nicht mehr viel zu tun, Bov Bjerg gelingt hier literarisch ein wirklich anspruchsvoller und sehr humorvoller dystopischer Roman mit viel Liebe zum Detail.

In der Zukunft gibt es so etwas wie Trauer nicht mehr wirklich. Es ist den Leuten zu anstrengend, um Verstorbene auf ihren Beerdigungen, hier liebevoll "Zerstreuungsfeier" genannt, zu weinen. "Trauertreu" (eine tolle Alliteration!) sind nur noch die sogenannten Vorweiner, die man sich kaufen kann. Es handelt sich hierbei um Einwanderer aus der Niederschicht, die noch Gefühle zeigen können. Wenn man sich gut mit ihnen steht und sich rechtzeitig einen Vorweiner besorgt, trauert vielleicht doch einer um einen bei der eigenen Beerdigung. So macht es auch Anna und besorgt sich einen niederländischen Vorweiner:

"Lautes Lachen war die Domäne der Niederschicht und der Vorweiner. Ihnen war der Kontrollverlust gleichgültig, sie hatten nichts zu kontrollieren, nicht einmal sich selbst." (S. 47)

 

Die Charaktere dieses Romans sind äußerst skurril, ebenso wie die dystopische Welt, die Bov Bjerg hier erschafft. Sprachlich ist dieser Roman einfach nur toll zu lesen, wenn auch nichts, was man eben nebenbei lesen kann. Hier steckt in allem viel Liebe zum Detail. Es geht von tollen Neologismen wie "Zerstreeungsfeierchoräle" (S. 34) über passende Alliterationen wie "trauertreu" (S. 41). Auch steckt im humorvollen Umgang mit den anderen Ländern auch viel Sozialkritik. Beispiele wären hier die Österreichische Partei Österreichs, die Vetternwirtschaft legalisiert oder die klischeehafte Darstellung der niederländischen Vorweiner. Die gesamte Gesellschaft in dieser dystopischen Welt ist einfach nur skurril. Wer könnte sich eine Kanzlerin mit dem Namen Chilli Chayenne vorstellen, die auch noch den Resteuropäischen Songcontest gewonnen hat? Auch die Willkommenszentren Köln Dom und Oberhausen Einkaufszentrum haben mich zum Schmunzeln gebracht.

"Die Auslagerung der Trauer [...] war ein beträchtlicher zivilisatorischer Fortschritt." (S. 58). Das kann man leider nicht behaupten, wenn man sich die beiden Hauptcharaktere anschaut.
Anna, die Mutter in dieser Familie scheint einfach nur perfekt sein zu wollen und sich einer Schönheitsoperation nach der anderen zu unterziehen. Und dann wäre da noch ihre Tochter B,. die jegliches Nachdenken wohl abgelegt zu haben scheint. Sie schreibt Unsinnsnachrichten für die Agentur für spannende Nachrichten und ist stolz darauf, dass sie für diese Arbeit nicht einmal recherchieren muss. Auch sagt sie: "Was in Schulbüchern steht, ist in meinem Hirn verdunstet, sobald ich es gelesen habe" (S.89). So ist es eigentlich klar, dass sie nicht viel von der realen Welt mitbekommt.

"Der Vorweiner" hat mir wirklich außerordentlich gut gefallen. Bov Bjergs Schreibstil ist so kompakt und voller Bedeutung, dass ich diesen Roman nur jedem ans Herz legen kann, der das Spiel mit der Sprache liebt.