Rezension

Tabubruch

Erinnerungen eines vergessenen Mädchens - Riccardo Rilli, Paula Baumann

Erinnerungen eines vergessenen Mädchens
von Riccardo Rilli Paula Baumann

Paula Baumann beschreibt in ihrer Biographie über in der Kindheit erlittene Vernachlässigung und Missbrauch. 

Während Missbrauch ja schon – auch literarisch – seit Mitte der 80er Jahre immer wieder in den Fokus der Medien gerät ist Vernachlässigung eher ein kleines Thema. Grundsätzlich verbindet man damit ja eher schlechte Pflege, zu geringe Nahrung etc. oft in Verbindung mit Krankheit (z.B. Drogenmissbrauch) der Eltern. Hunger oder schlechte Bekleidung hat sie jedoch nicht gekannt – sie räumt mit dem idyllischen Ammenmärchen auf, dass Eltern ihre Kinder lieben. 

In einer verstörenden Collage aus Tagebucheinträgen und Erinnerungen (nicht chronologisch, da ja Gedanken nie zeitlich geordnet sondern chaotisch drängend erscheinen) beschreibt sie wie zerstörerisch „normale“ Eltern, die nicht lieben sind. Ja es gibt sie sogar sehr häufig, immer noch, 

Die ewig zu kurz gekommenen, die meinen, dass ihre Kinder ihnen die Emotionen schuldig sind, die sie von den eigenen Eltern nicht bekommen konnten, zerstören – bewusst oder unbewusst – die Persönlichkeit ihrer Kinder und machen sie zu unsichtbaren Geschöpfen. Sehr anschaulich schildert sie unter welch dramatischen Folgeschäden sie auch als Erwachsene noch leidet. Die Wunden werden nie heilen obwohl sie noch mit einem blauen Auge davon gekommen ist. 

Ich wünsche diesem Buch eine starke öffentliche Diskussion – auch wie der Staat hier in die Pflicht genommen werden kann. Denn bei Paula Baumann sind zwar Dinge auch „offiziell“ zur Kenntnis gekommen, sie sind jedoch in Interaktion ins Leere gelaufen. 

Allein für ihren Mut – und die gute Darstellung eines zerstörten Kinderlebens – erhält sie von mir die Maximalbewertung von 5 Punkten.