Rezension

unglaublich starker tiefgreifender Roman

Wege, die sich kreuzen - Tommi Kinnunen

Wege, die sich kreuzen
von Tommi Kinnunen

Bewertet mit 5 Sternen

Von Tommi Kinnunen hatte ich bisher noch nichts gehört. Ich hoffe aber sehr, dass sich das nach seinem Roman „Wege, die sich kreuzen“ ändern wird. Wieder mal ein Schriftsteller aus dem Norden, diesmal aus Finnland, dessen Buch mich ausgesprochen überrascht hat und mit seinem Stil, seiner Tiefe und Anspruch gerührt und gefesselt hat. Die Art und Weise, wie er die Wege von vier Menschen kreuzen lässt, hat eine Kunst, an der sich viele versuchen und vielfach scheitern. Wie oft schon habe ich mich geärgert, dass ein Schriftsteller/eine Schriftstellerin nicht mit den Zeitintervallen ihrer Geschichten umgehen kann. Hier ist das ein Stilmittel, das die Leserschaft anregt auch mal zurückzublättern, wie das denn war, kurz davor oder nach der gerade beschriebenen Begebenheit. Der Roman spielt hauptsächlich in einem kleinen Ort in Finnland. Wenige Einwohner, kalte Winter, entbehrungsreiche Leben, wenig Abwechslung und Veränderungsmöglichkeiten.
Es sind die Lebens- und Leidenswege vier Personen einer Familie, die sich über ein ganzes Jahrhundert spannen und erzählt werden. Natürlich gehören noch viel mehr Menschen dazu. Das Besondere daran ist, dass aus der Sichtweise von jeweils einer der vier im Inhaltsverzeichnis Genannten ihre Geschichte von Anfang bis Ende erzählt wird, bevor die nächste Person beginnt. Dabei werden jeweils zwischen acht und zwölf Episoden über Jahrzehnte hinweg erzählt. Keine dieser Episoden berühren sich zeitlich mit denen von Maria, der „Stammmutter“ direkt, anders als bei Lahja, ihrer Tochter und Onni, ihrem Schwiegersohn, die sich, zumindest was das Jahr angeht, vier mal kreuzen. Kaarina, die Schwiegertochter von Lahja, hat dieses Vergnügen nur ein einziges Mal.
Die Geschichte beginnt mit Maria im Jahr 1895. Aber nein, eigentlich beginnt sie auf dem Totenbett ihrer Tochter Lahja, mit einer Episode, bei der sich die Leserschaft in einen Krimi hineinversetzt fühlt und sich fragt, wow, was ist da passiert, warum und wieso. Es sind diese zum Teil knappen Sätze, wortgewaltig, der Autor braucht nicht mehr, um mich zu bannen. Jedes mal sind es diese ersten Sätze einzelner Abschnitte, die einen hineinziehen in eine Welt, die hier relativ unbekannt ist. Was weiß man schon von diesen kleinen Dörfern Finnlands aus der Jahrhundertwende, wie das war, als Frau einen Beruf zu ergreifen, überhaupt sich auch dort zu emanzipieren. Maria ist eine dieser Frauen, die einen typisch weiblichen Beruf ergreift, vielfach akzeptiert. Als Hebamme ist sie tätig, muss sich aber behaupten und durchsetzen gegen misstrauische Dörfler. Ist alleinerziehende Mutter von Lahja, baut ein Haus für sich und ihre kleine Familie. Das ist ihr wichtig, diese Unabhängigkeit, keinen Mann brauchen zu müssen. Die gelebten Zeiten, die Kriege, Armut und Flucht, Neuanfang und Verzweiflung im Alter, doch noch in Abhängigkeit zu geraten, wir erleben es mit. Es lässt einen erschauern und nachprüfen, wie es bei einem selbst zurzeit ist. An welchen Stellschrauben wir an unserem eigenen Leben wir noch justieren können und wollen.
Lahja möchte schon anders sein, möchte Ehemann und Familie, doch das Leben und ihre eigene Mutter kommen ihr in die Quere. Unabhängigkeit, dieser Wunsch der eigenen Mutter geht nicht spurlos an Lahja vorbei, auch sie ergreift und erkämpft sich einen eigenen Beruf. Doch nicht nur die Verluste an Leben, Hab und Gut in Krisenzeiten lassen aus Lahja eine fast unnahbare Frau werden, aus der Neid, Eifersucht und Missgunst nur so heraustropfen. Eine fast greifbare Wut und Verzweiflung an nicht veränderbaren Umständen lassen sie so werden wie sie ist; und wieder fragt man sich, an welchem Punkt hätte sich noch etwas ändern lassen.
Diese Frage stellt man sich vor allem bei ihrer Schwiegertochter Kaarina, die in das Haus ihrer Schwiegereltern zieht. Das Haus von Maria wurde im Krieg zerstört, ihr Schwiegersohn Onni baut mit viel Leidenschaft ein neues, sehr großes Langhaus, in dem alle ihren Platz haben sollen. Nur dass sie sich kaum aus dem Weg gehen können, bis auf eine Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Ihren Schwiegervater kennt sie nur aus Erzählungen, der ein wundervoller Vater gewesen sein muss. Sie nimmt diese schwierige Aufgabe an, um in einem Haus zu leben, mit Enkeln, die nicht gewünscht sind, einer Enge, die sie verzweifeln lässt. Ob sie am Ende die neuen Erkenntnisse über ihre angeheiratete Familie wieder sanfter stimmen lässt? Was hat es mit dem Familiengeheimnis auf sich, über das keiner mit ihr reden will?
Und Onni? Ehemann von Lahja, die doch eigentlich so gerne ihre Jugendliebe geheiratet hätte. Die bereits ein Kind hat, als Onni ihr den Antrag macht. Der sich rührend um seine Stieftochter und sein behindertes zweites Mädchen kümmert. Der seinem einzigen Sohn ein guter Vater sein will. Doch auch bei ihm hinterlassen Krieg und die Nachkriegszeit Spuren. Was er dort über sich selbst erfahren hat, lassen ihn danach unruhig einen Plan nach dem anderen ausführen, doch wirklich glücklich macht ihn Anderes.
Dieser Familienroman ist so anders, als das, was ich bisher gelesen habe. Offen für Neues, Neugierig auf eine andere Welt, hat dieser Roman viel zu geben. Hoffentlich bekommen wir noch sehr viel mehr von diesem Autor zu lesen.