Vater liebt Muscheln (aber darüber hinaus niemanden)
Bewertet mit 4 Sternen
Mutter, Tochter und Sohn sitzen in der Küche und warten auf den Vater, der von einer Dienstreise zurückkommen soll. Sein Lieblingsessen, Muscheln mit Pommes frites, steht schon dampfend auf dem Tisch, denn nie, niemals würde sich der Vater verspäten und nach 18.00 Uhr zum Essen kommen. Nur heute.
Die Tochter erzählt, und was sich anfangs anhört wie chaotisches Gequassel, wird mehr und mehr zum Psychogramm eines Mannes, der die persönlichen Komplexe wegen seiner Herkunft (unehelich in einem Dorf in der ehemaligen DDR bei einer Mutter groß geworden, die in Unordnung und Schmutz versank) versucht, durch eine perfekte Familie zu kompensieren, dabei seine eigenen Vorstellungen zum alleinigen Maßstab erhebt und sie durchsetzt ohne nach Frau und Kindern zu fragen. Die alle drei vor ihm kuschen, sich aus Angst klein machen und sich Freiheits-Nischen und Verstecke suchen für ihre ganz eigenen persönlichen Bedürfnisse wie Lesen oder Klavier spielen. Unglaublich, wie dieses perfide Unterdrückungssystem aus Angst, Demütigung und verbaler Gewalt funktioniert, und dass keines der drei Opfer, nicht einmal die Mutter, bisher aufgestanden ist und rebelliert hat.
Die Tochter spricht – denkt in Bandwurmsätzen, gelegentlich unterbrochen von Kommas; Punkte sind seltener. Die Wirkung ist eindeutig: Hier spricht sich jemand alles von der Seele, hat noch nicht einmal Zeit, um Atem zu schöpfen; hier bricht alles heraus, was lange in ihr verschlossen war.
Erschreckend für den Leser, als er im letzten Drittel erst erfährt, dass die Tochter kein plapperndes Pubertätsmädel ist, sondern eine Erwachsene.
Am Ende bleibt die Frage: Übertriebene Schilderung? Oder Realerzählung? Ist der Vater eine Kunstfigur, die mit allen Eigenschaften ausgestattet ist, die einen Menschen abstoßend und widerwärtig machen? Oder gibt es sie tatsächlich noch, die Familientyrannnen, die keine fremden Götter und erst recht keine abweichenden Meinungen neben sich ertragen?