Rezension

Viele Geschichten in einer Geschichte

Sommernachtstränen - Bärbel Götz

Sommernachtstränen
von Bärbel Götz

Bewertet mit 5 Sternen

„...Der Gedanke an die Heimat ließ harte Züge weich werden...Dort waren unsere Leute was gewesen...Hier wurden sie mit Abscheu betrachtet...“

 

Isabell war in die Stadt gekommen auf der Suche nach ihrem Bruder Teddy. Seit vielen Jahren hatte sie ihn nicht gesehen. Auf der Straße sieht sie eine ältere Frau mit Rollator und hilft ihr, die Einkäufe in die Wohnung zu bringen. Renate Feldmann lädt Isabell zu einer Tasse Kaffee ein und erzählt ihr, dass sie von ihren Fenstern aus die Nachbarn beobachtet.

Die Autorin hat einen abwechslungsreichen Gegenwartsroman geschrieben, dessen Handlungsstränge nicht nur Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen.

Im Mittelpunkt steht Isabell. Die junge Frau hat sich ein Gartenhaus gemietet und schreibt kleine Geschichten. Damit bestreitet sie ihren Lebensunterhalt. Tieferen Kontakt zu anderen Menschen hat sie in den letzten Jahren vermieden. Die Ursache dafür liegt in ihrer Kindheit, dem Tod der Eltern in ihren dreizehnten Lebensjahr und dem Aufenthalt im Waisenhaus.

Durch die Begegnung mit Renate ändert sich Isabells Leben. Renate beobachtet nicht nur die Nachbarn, sondern erpresst sie auch mit ihrem Wissen. Davon will Isabell sie abhalten. Doch Renate hat auch eine zweite Seite. Sie kümmert sich um den türkischen Jungen Emre, kocht ihm Essen und hört sich seine Schulprobleme an.

Der Schriftstil des Buches lässt sich angenehm lesen. Geschickt hat es die Autorin verstanden, anhand von Renates Beobachtungen die Geschichten der Bewohner der Lessingstraße zu erzählen. Was Renate sieht, ist nur der äußere Schein. Ich als Leser darf hinter die Fassaden schauen.

Da ist Alexandra Schimmel, die ein Alkoholproblem hat. Renates direkte Nachbarin leidet an Einkaufssucht, und Annette wird häufig von ihrem Mann geschlagen, will sich aber nicht von ihm trennen.

Besonders interessant für Renate ist allerdings Valentin. Sein Grundstück ist mit Eiben zugewachsen und ermöglicht keinen Einblick. Das lässt die Phantasie der älteren Damen in der Nachbarschaft wahre Blüten treiben. Und gerade Valentin läuft Isabell über den Weg, als sie Renate verlässt.

Emre bringt eine besondere Art von Humor in die Geschichte:

 

„...Ich habe bei meiner Oma im Dorf den Gebetsruf aufgenommen und im Schülergottesdienst mit der Box von meinem Bruder direkt vor dem Schlussgebet abgespielt. Gebetsruf vor Schlussgebet. Das ist Integration...“

 

Er meint das ehrlich. Die Lehrerin hat das verständlicherweise anders gesehen und verlangt von den Jungen, eine Arbeit über die Nibelungensage zu schreiben. Isabell hilft ihm dabei und macht ihn mit dieserr Geschichte vertraut. Die Sage wird dann auf ganz eigene Weise im Laufe der Handlung erzählt. Als Problem werden „...die Eifersucht der Frauen und die Feigheit der Männer...“ dargestellt. Schnell werden Parallelen zwischen dem aktuellen Geschehen und der Sage deutlich. Dazu nutzt die Autorin ein zweites Stilmittel. Renate und ihre Schwester Iris hatten nach einem Zerwürfnis keinen Kontakt mehr. Renate aber hat ihre Gedanken in Briefen an ihre Schwester dargelegt und dabei ihre Lebensgeschichte reflektiert. Diese Briefe wurden allerdings nie abgeschickt.

Sie führen mich als Leser tief in die Vergangenheit und zeigen am persönlichen Beispiel das Schicksal der Deutschen, die 1940 Bessarabien Richtung Deutschland verlassen mussten. Das Eingangszitat stammt aus einem der Briefe.

Die Geschichte hat viele unterschiedliche Facetten. Entsprechend variabel ist deshalb auch der Schriftstil, berührend, sachlich, kurz angebunden, gehoben. Menschen drücken sich nun einmal verschieden aus.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es zeigt ein Stück Lebenswirklichkeit, arbeitet Verletzungen aus der Kindheit auf und weist in Richtung eines hoffnungsvollen Miteinanders. Nicht jede Frage wird beantwortet. Das liegt in der Natur der Sache. Im Nachhinein gibt es eben keine Möglichkeit, zu ergründen, warum mancher so gehandelt hat, wie er gehandelt hat.