Rezension

Wenn Freunde plötzlich zu Verdächtigen werden...

Abgründig - Arno Strobel

Abgründig
von Arno Strobel

Bewertet mit 4 Sternen

Wenn Freunde plötzlich zu Verdächtigen werden...
Wenn du plötzlich nicht mehr weißt, wem du trauen kannst...
Wenn du selbst ganz oben auf der Liste der möglichen Täter stehst...
Und wenn du selbst nicht mit Bestimmtheit von dir behaupten kannst, unschuldig zu sein...

"Abgründig" ist der erste Jugendthriller aus der Feder des Bestsellerautors Arno Strobel. Dass er sich mit fiesen Psychospielchen auskennt, wissen seine Fans bereits, doch kann er diese auch mit seinen jungen Lesern spielen?

Mit Tim, Ralf, Lena, Jenny, Julia, Lucas, Janik, Sebastian, Fabian und Denis schickt Arno Strobel gleich 10 Jugendliche auf eine spannende und mörderische Reise ins "Bergcamp Grainau". Eigentlich wollten die zehn ihre Ferien mit ein paar sportlichen Aktivitäten und der ein oder anderen Bergtour aufpeppen, dass sie sich bereits nach wenigen Stunden im schlimmsten Albtraum ihres Lebens wiederfinden würden, hätten sie nicht gedacht. Während einer Wanderung gerät die Truppe in ein Unwetter. Mit Mühe und Not erreichen sie eine Berghütte, in der sie Zuflucht finden. Doch nicht nur das Wetter, sondern auch die Lage hinter verschlossener Tür spitzt sich zu. Unruhe breitet sich aus und am nächsten Morgen verschwindet einer der Freunde spurlos. Zurück bleibt eine Blutspur und die Frage, wer von ihnen ein dunkles Geheimnis hat...

Als großer Fan von Arno Strobels Thrillern, schlug ich mit großen Erwartungen und einem sehr kritischen Blick die erste Seite des 240 Seiten starken Buches auf. Schon der Prolog macht neugierig auf die Geschichte und wirft viele Fragen auf, denn er rollt das Feld von hinten auf. So lernen wir Tim kennen, festgeschnallt auf der Trage eines Rettungswagens, mit mehreren gebrochen Rippen und krank vor Sorge um ein Mädchen, dessen Verbleib unklar ist. Er scheint schreckliches erlebt zu haben.

"Tränen suchten sich einen kitzelnden Weg über seine Wangen. (...) Wieder sah er das Blut. Auf der Decke, am Boden, an seinen Händen ... 
Und er sah ihre Gesichter, als sie ihn Mörder nannten."
Zitat, Seite 9
Auf den ersten Seiten stellt der Autor seine Helden vor, die nach und nach das sonnige Bergcamp beziehen. Ich fühlte mich ein kleines bisschen überfordert mit all den Namen, die zudem alle recht gängig und wenig markant sind. Hier hätte ich mir wenigstens für einige der Kids außergewöhnlichere oder auch exotischere Namen gewünscht, die es einem leichter machen, sie auseinanderzuhalten. Die Zusammenstellung der Charaktere, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammen und unterschiedliche Backrounds haben, hat mir wiederum sehr gut gefallen, wobei man vielleicht Jenny und Julia und vielleicht auch Janik und Sebastian meiner Meinung nach jeweils zu einer Person hätte zusammenfassen können. Der Leser hat nur 240 Seiten Zeit, die Jugendlichen kennenzulernen. Gern hätte ich ein bisschen mehr über Fabian, ein bisschen mehr über Lena, ein bisschen mehr über Julia/Jenny oder meinetwegen auch ein bisschen mehr über Sebastian (sein Interesse für Lena und seine dadurch resultierende Wut auf Tim) erfahren. Nicht nur Fabian blieb für mich am Ende ein bisschen blass um die Nase. Leider ging mir zwischendurch sogar einer der Jungs einfach verloren. Als plötzlich ein Lucas auftauchte, vermutete ich erst einen Namensfehler, bis ich feststellte, dass er doch schon von Anfang an dabei war.

So fiel es mir nicht ganz so leicht, in die Geschichte einzusteigen. Als sich die Gruppe rund um Tim jedoch auf eigene Faust auf eine Wander- und Klettertour begibt, nimmt nicht nur der starke Wind, sondern auch das Tempo an Geschwindigkeit und Power zu. Hier legte sich für mich der Hebel um und endlich gelang es mir, komplett in die Geschichte und die ungemütliche Szenerie einzutauchen. Arno Strobels starke atmosphärische Beschreibungen trugen einiges dazu bei, dass ich stellenweise fröstelte und - angekommen in der Berghütte, erstmal tief Luft holen musste. Der Aufstieg aber auch die beklemmende Atmosphäre in der Berghütte waren für mich absolute Highlights, ganz großes Lit-Spannungs-Kino.

Nach einer beinahe schlaflosen Nacht, der übrigens ein nicht unbeachtlicher Alkoholkonsum vorausging, konnte ich mir schließlich die Fragen, ob es dem Autor gelingen würde, auch mit seinen jungen Lesern ein Psychospiel zu spielen, selbst beantworten. Yes, he can! Und wie er kann! Doch bevor ich beichte, wie oft es ihm gelungen ist, mich auf falsche Fährten zu führen und wie häufig ich mich mit meinen Verdächtigungen in einer Sackgasse wiedergefunden habe, muss ich noch ein paar kritische Worte loswerden. Für die hier angesprochene Zielgruppe fließt mir auf der Hütte eindeutig zu viel und zu leicht Alkohol. Alle trinken mit und der Alkohol wird (in meinen Augen) als "Beruhigung" und Spaß dargestellt. Natürlich bin ich mir bewusst darüber, dass die Kids heutzutage viel mehr trinken und viel früher damit anfangen. Aber hier fehlt mir ein bisschen der mahnende Finger bzw. wird das Herumreichen der Flaschen als ziemlich "normal" abgetan.

Doch nach dem Erwachen am nächsten Morgen, war dieser Kritikpunkt schnell wieder vergessen, denn die Situation scheint zu eskalieren. Die Anspannung, die in der Luft liegt, ist greifbar, die Nervosität, die Unruhe, aber auch die Verzweiflung und die Angst sind spürbar. Hinterlistig schubst der Autor immer wieder neue Verdächtige ins Rampenlicht und macht noch nicht mal vor seiner Hauptfigur Tim halt, der ein besonderes Geheimnis mit sich herum trägt, das ihn ordentlich an sich selbst zweifeln lässt. Ein genialer Schachzug, der der Geschichte das "gewisse Etwas" gibt. Nicht oft rätsel ich in Jugendthrillern so viel herum, wie in diesem. Immer wieder hatte ich eine Idee, bin einer Spur gefolgt und wieder in einer Sackgasse gelandet. Sämtliche Szenarien habe ich durchgespielt, jeder war mal der Täter. Die finale Auflösung hat mich überrascht, klang aber logisch und ist für die Zielgruppe sicher die angenehmere und annehmbarere Lösung.
Ein weiteres Mal ist es dem Loewe Verlag gelungen, mich mit einem seiner tollen Titel für ein paar Stunden aus dem Alltag zu entführen. Ich konnte alles um mich herum ausblenden und war am Ende froh, dass ich es bloß mit einer fiktiven Geschichte zu tun hatte. Arno Strobel erzählt die abenteuerliche Geschichte seiner Helden äußerst spannend, mitreißend aber auch herzlich und, wie ich finde, sehr authentisch. Er hat es geschafft, sich seiner neuen Zielgruppe anzupassen und sie direkt vor der Haustür abzuholen.
Ein außergewöhnlich guter Jugendthriller, der ohne viel Blut und ohne geschwindigkeitsraubende Längen auskommt und den man eigentlich gar nicht liest, sondern erlebt.