Rezension

Wie war doch gleich die Zukunft, die ich mir erträumt habe?

Herr Kato spielt Familie
von Milena Michiko Flasar

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Herr Katō spielt Familie" ist ein schmales (170 Seiten), sehr stilles und doch gehaltvolles Buch der Autorin Milena Michiko Flašar, das sich hinter einem - auf den ersten Blick - recht unscheinbaren Cover versteckt. Die Geschichte erzählt von verpassten Gelegenheiten, unerfüllten Wünschen und der Frage nach dem, was man sein wollte und was daraus wurde. Held ihres neuesten Werkes ist ein frisch berenteter, älterer Herr, dem der Ruhestand so gar keine Ruhe lässt. Jahrelang hat er sich ausschließlich über die Arbeit identifiziert. Seine Ehe, wie er sich eingestehen muss, ist bereits vor Jahren gescheitert. Seiner Frau steht er Zuhause nur noch im Weg. Vom Leben und dem Ruhestand hatte er sich mehr erhofft, etwa eine Reise nach Paris oder die Anschaffung eines Hundes. Wünsche, die er immer wieder aufgeschoben und schließlich ganz aufgegeben hat. Nun ist da nichts mehr, was ihn ausfüllt oder besonders macht. Eine Geschichte, die so vermutlich überall auf der Welt spielen könnte.

"Also kein Happy End?" "Möglich wär's. Aber", sie schaut auf die Straße hinaus, "das wäre zu einfach, oder?" (S. 84)

Die Chance, seinem Leben wieder einen Inhalt zu geben, eröffnet sich ihm in Gestalt einer geheimnisvollen, jungen Frau, der er auf dem Friedhof begegnet. Eine Schauspielerin mit einer eigenen Agentur, die Identitäten vermittelt. Für ein paar Stunden jemand anderes sein. Jemand, der gebraucht wird, aber nicht da sein kann.

"Sie sehen mir aus wie einer, der viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird." (S. 31)

Für sie schlüpft er in die Rolle des "Herrn Katō". Gebucht mal als Opa, mal als "stummer" Ehemann, mal als Festredner auf einer Hochzeit. Es sind die Schlüsselszenen des Romans, denn er blüht in seiner Rolle auf, wächst über sich hinaus in einer Weise, die ihm Zuhause so vielleicht gar nicht zugestanden werden würde. Einmal fremde Schuhe anziehen und in ihnen gehen? Sich vielleicht ein Stück weit ausprobieren? Nicht immer läuft dabei alles wie geplant, jedoch lenkt es seinen Blick "ungewollt" auf die Dinge, die wirklich zählen.

Wenn Herr Katō Familie spielt, wirkt das Geschehen so viel echter. Denn paradoxerweise stehen sich die Charaktere in diesen Szenen emotional viel näher, als in der realen Welt, wo stets eine unüberwindbar anmutende Distanz herrscht. Zu der Frau, den Kindern, den Kollegen.

"Ob er sich auch nur einmal die Frage gestellt habe, dass in Wahrheit alles erfunden gewesen sein könnte? […] Und jeder nur ein Stand-In? Und er der einzig Echte, der von nichts eine Ahnung gehabt hätte? Ob das etwas ändern würde?" (S. 163)

Doch es macht den Protagonisten greifbarer. Man kann seine Sorgen nach- und mitempfinden. Seine Entwicklung nachvollziehen. Sich besser mit ihm identifizieren. Denn jeder sehnt sich nach der Fürsprache und Zuwendung anderer. Biegt sich die Wahrheit auch mal zurecht, um sich besser zu fühlen oder auf sich aufmerksam zu machen. Hat die Hoffnung, irgendwo anzukommen. Der Autorin ist es sehr gut gelungen, diese Gefühle zu übermitteln und den Leser die Welt durch Herrn Katōs Augen sehen zu lassen. Sich vielleicht ein Stück weit in ihm wiederzufinden. Dabei beweist sie viel Empathie und Feingefühl. Dennoch behält Flašar auch stets einen leicht kritischen Unterton bei. Kritik an einer leistungsorientierten Gesellschaft, die die Zeit möglichst effizient auszufüllen sucht. Die die Zeit bzw. das Zeithaben gar nicht mehr ertragen kann. Sie erinnert uns daran, hin und wieder mal einen Gang zurück zu schalten, zur Ruhe zu kommen und auf die Dinge zu besinnen, die wichtig sind. Die es wirklich braucht, um glücklich zu sein.

"Wie war doch gleich die Zukunft, die ich mir erträumt habe?
Lebwohl, mein gestriges Ich.
Am Himmel Flugspuren –
wohin soll ich bloß nach Hause gehen?"

(Zitat aus "Shinkokyū" von Hanaregumi; Übersetzung: Milena Michiko Flašar)