Rezension

Zu wenig Fotografie-Verstand

Ein Jahr auf dem Land - Anna Quindlen

Ein Jahr auf dem Land
von Anna Quindlen

Bewertet mit 4 Sternen

Rebecca Winter hat ihre Wohnung in New York City vermietet und ist selbst in eine vernachlässigte, sehr einfache Jagdhütte auf dem Land gezogen. Der Kontrast zum Großstadtleben könnte nicht größer sein. Während für kleinere häusliche Katastrophen in der Stadt der Hausmeister zuständig war, muss Rebecca sich gleich nach ihrer Ankunft um einen Waschbären kümmern, der sich unter dem Dach des maroden Häuschens niedergelassen hat. Als typische Städterin hat Rebecca die im Elternhaus vorgelebte Abneigung gegen herumfliegende Pollen und Insekten übernommen. Wenn sie hier auf dem Land zurechtkommen will, muss sie sich einer Lebensweise anpassen, die auf Selbstversorgung und gegenseitige Hilfe setzt. Weshalb sollte man Brennholz für den Kamin kaufen, wenn ein Nachbar es im Tausch gegen einen anderen Gefallen bis vor die Tür bringt?

Rebecca hat als junge Frau einmal ein Foto zu traumhaften Konditionen verkauft, das sie von ihrem Küchentisch am Morgen nach einer Feier aufgenommen hatte (Still life with bread crumbs, so der Originaltitel des Romans). Bis heute flossen aus diesem Geschäft regelmäßig Einnahmen, die es Rebecca ermöglichten, ihre Eltern zu unterstützen und den Heimplatz ihrer dementen Mutter zu finanzieren. Obwohl sie sich als Fotografin seitdem nur wenig weiter entwickelt hat, blieb Rebecca in der öffentlichen Wahrnehmung die feministische Ikone, die in diesem Foto das Lebensgefühl einer ganzen Frauen-Generation ausdrückte. Rebeccas Ortswechsel ermöglicht ihr nun die Muße, die künstlerische Sackgasse zu erkennen, in der sie gelandet ist. Das Jahr auf dem Land, kaum zwei Stunden Fahrt von New York entfernt, wird  für Rebecca zum Kulturschock und zur Bestandsaufnahme ihres Lebens. Kurz vor ihrem 60. Geburtstag ist sie gezwungen, neu auf andere Menschen zuzugehen und  ihren Blick für deren Lebensweise zu schärfen.

Von Rebeccas Neubeginn erzählt Anna Quindlen in warmherzigem Ton und trifft damit das Lebensgefühl  in den 50ern geborener Frauen, die sich zwischen den Ansprüchen von kränkelnden Eltern und nesthockenden Kindern aufgerieben fühlen. Da Rebecca auch den Winter auf dem Land verbringt, kann ich mir Quindlens Roman sehr gut als Lektüre für die Vorweihnachtszeit vorstellen. Nicht gelungen ist es der Autorin, mir Rebecca als Fotografin oder Künstlerin nahezubringen, die Fotografieren wie einen zusätzlichen sechsten Sinn nutzt. Verglichen mit den liebevoll zusammengetragenen Beobachtungen  eines Lebens auf dem Land und einer sich anbahnenden Liebesbeziehung fallen die Passagen über Rebeccas Arbeit als Fotografin sprachlich und sachlich stark ab. Ärgerlich, dass diese nicht plausiblen Details  von niemandem bearbeitet wurden, der etwas von der Sache versteht. So stützt der Roman leider das Klischee, Leserinnen von  Frauenromanen  würden sich nur für die Beziehungsebene interessieren und  die Sachebene könne daher vernachlässigt werden.