Rezension

Zwei Frauen, zwei Welten

Wellenflug -

Wellenflug
von Constanze Neumann

Bewertet mit 4 Sternen

Constanze Neumann erzählt in „Wellenflug“ vom Leben zweier Frauen - Anna und Marie - die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Die glückliche Kindheit von Anna Reichenbach wird überschattet vom frühen Tod einer ihrer Schwestern. Der Tuchhandel ihres Vaters bringt Wohlstand, sie sind nicht praktizierende Juden, eine angesehene Familie.

Anna, im Jahre 1864 geboren, wächst auf in standesgemäßem Denken, heiratet. Nachdem Adolph, ihr erster Mann, früh verstirbt, bekommt sie in ihrer zweiten Ehe etliche Kinder, alle wohlgeraten bis auf Heinrich, dem Erstgeborenen, der den hohen Erwartungen so gar nicht entspricht. Das Nachtleben mit all seinen Verlockungen hat er für sich entdeckt hat, er ist wie schon sein Onkel Arthur vorher das schwarze Schaf der Familie. Auf den Pflichtteil gesetzt, wenden sie sich von ihm ab.

Marie, 1905 geboren, ist ein ganz anderer Typ, sie kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Die unbedarfte, treuherzige Marie hat es nicht leicht im Leben. Sie bekommt nichts geschenkt, lernt eines schönen Tages Heinrich kennen, der immer gut drauf ist. Schon als 6jähriger ist er immer zu Scherzen aufgelegt, kann dem Leben viel abgewinnen. Ein Charmeur durch und durch ist er. Nennt sie, die von dem kleinen Ort Burg kommt, bald sein Burgfräulein.

Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung und beiden kann ich viel abgewinnen. Zum einen ist es Anna, welche äußerst sympathisch rüberkommt. Ein Sonnenschein ist sie und durch etliche Schicksalsschläge zur Frau gereift, die immer härter, unnachgiebiger wird, was einerseits verständlich ist, jedoch macht sie dieses Unversöhnliche auf eine abgehobene Art unnahbar, ihr Standesdenken kann sie nie abstreifen. Marie dagegen ist mir zunächst fremd, ihre Naivität mit Händen greifbar. Ob sie Heinrich in jungen Jahren durchschaut hat? Jedoch wandelt sie sich zusehends zu einer Kämpferin, ihre Lebensumstände und später dann der beginnende Nationalsozialismus  zwingen sie dazu, sie muss stark sein.

Wellenflug – das Karussell setzt sich in Bewegung, erst langsam und dann immer schneller, auf und ab. So wie das Leben, ihrer aller Leben.

Um den historischen Hintergrund und den realen Figuren und Ereignissen hat Constanze Neumann eine dicht gewebte Geschichte niedergeschrieben, die sich so ähnlich zugetragen haben könnte. Viele Fakten sind durch die Familienchronik belegt, die Briefe und Zeitungsartikel entsprechen den Tatsachen. Ihre bewegende Geschichte hat mich berührt und trotz der Ernsthaftigkeit gut unterhalten. Hinzu kommt der angenehme, gut lesbare Schreibstil, der tief eintauchen lässt ins Damals. Alle Charaktere sind authentisch, der Nationalsozialismus mit seinem Schrecken glaubhaft dargestellt, sodass ich mich gut in ihre Ängste einfühlen konnte, ihre Verzweiflung spürte.

Das aufschlussreiche Zeugnis einer vergangenen Zeit, das Schicksal zweier so unterschiedlicher Frauen, hat mich nachdenklich zurückgelassen, ein entscheidendes Stück Familiengeschichte in unruhigen Jahren. „Wellenflug“ ist Constanze Neumanns Geschichte, die ihrer Vorfahren, von ihrem Großvater an sie weitergegeben. Eindrucksvoll dargestellt und sehr lesenswert.