Rezension

Unterwegs mit einem Toten

Bleib -

Bleib
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 3.5 Sternen

Eine Frau verbringt mit dem langjährigen Geliebtem ein Wochenende in einem abgelegenen Chalet. Überraschend stirbt ihr Begleiter beim Schwimmen im See. Sie zieht seinen toten Körper aus dem Wasser, wäscht ihn, liebkost ihn und beginnt, Briefe an die Ehefrau ihres Geliebten zu schreiben.

Dies ist eine schräge Story. Ich bin nicht sicher, ob ich verstanden habe, was mir die Autorin damit sagen will, war aber so angetan vom Schreibstil, dass ich das Buch in einem Rutsch gelesen habe. Es ist auf seltsame Weise irre und realitätsnah. Der Tote wird gewaschen, angezogen, gestreichelt, durch die Gegend gefahren, zu einer Wunderheilerin gebracht. Es wirkt morbide und auch geschmacklos, all dies der ahnungslosen Ehefrau zu schreiben.

Natürlich lässt sich nachvollziehen, dass man den Tod des liebsten Menschen auf irgendeine Weise verarbeiten muss. Auch, dass man ihn nicht gehen lassen möchte, ihn festhalten will. Dennoch war dies der Teil der Geschichte, der mich auf Distanz gehalten hat. Die Emotionen sprangen nicht über.

Zu der Hauptfigur habe ich nur in wenigen Momenten eine Verbindung gespürt. Manchmal schien sie mir fast verrückt, was wohl beabsichtigt ist. Es handelt sich hier um eine höchst traumatisierte Person.

Viele Gedanken der Protagonistin sind aber vollkommen klar. Sie bringt Erinnerungen an die Kindheit, an vergangene Partnerschaften und die Zeit mit dem Geliebten zu Papier. Dabei entsteht das Bild einer Frau, die sich lange ihren jeweiligen Partnern angepasst und erst in der Verbindung zu dem Verstorbenen so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, Emanzipation und Erfüllung gefunden hat. Trotz oder wegen der immer nur kurzen Zweisamkeit, die eine Affäre mit sich bringt? Wir erfahren es nicht. Die Hauptfigur weiß es selbst nicht genau. Aber in diesen Punkten habe ich einen Zugang zu der Erzählerin gefunden und Momente des Verstehens erlebt.

Gegen Ende, wenn die einsiedlerische Wunderheilerin ins Spiel kommt, wurde mir die Geschichte zu abgedreht. Vermisst habe ich auch einen Antwortbrief der Ehefrau des Verstorbenen, eine Art Widerhall oder Erkenntnis. Gelesen habe ich dieses sprachsichere Buch trotzdem gerne. Manchmal genügt es, sich einlassen zu können und sich mitnehmen zu lassen.

Kommentare

LySch kommentierte am 11. September 2024 um 12:09

Was für eine grandiose Rezension! Spricht mir total aus der Seele, mein Leseeindruck ist zu deinem sehr ähnlich! Du hast gute Worte dafür gefunden :)

lex kommentierte am 01. Oktober 2024 um 17:15

Dank dir.