Rezension

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Ein Requiem

Bleib -

Bleib
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 5 Sternen

 

Nach ihrem fulminanten Debütroman "Das wirkliche Leben" hat Adeline Dieudonne' nun nachgelegt, und einen weiteren literarischen Knaller verfasst, "Bleib".

Eine Frau verbringt mit ihrem langjährigen Geliebten ein Wochenende in einem Chalet in den Bergen, welches einem väterlichen Freund gehört. Plötzlich stirbt der Geliebte, der von ihr M genannt wird, und die Frau wird mit Trauer, Schuldgefühlen, Angst und Selbstzweifeln konfrontiert. Sie beginnt einen Brief an Ms Ehefrau zu schreiben, in dem sie ihr alles über ihre geheime Romanze erzählt, ja beichtet, um Rechenschaft abzulegen.

Die Frau, ganz am Ende unterzeichnet sie den Brief mit S, kann von ihrem toten Liebhaber nicht lassen, und begibt sich mit seiner Leiche im Auto auf einen Roadtrip, an dessen Ende vielleicht Erlösung wartet.

Das klingt abgefahren und makaber, und ist dennoch eine zärtliche, berührende Liebesgeschichte, und gleichzeitig eine feministische Parabel.

Schon in "Das wirkliche Leben" packte Dieudonne' eine Comimg- of - Age - Story in eine wilde, blutige, gewalttätige Achterbahnfahrt, ließ aber ihrer Protagonistin und deren Kampf um einen Platz in der Welt, immer genügend Raum und Würde. Dasselbe Kunststück bringt sie nun in ihrem neuen Roman fertig. Die scheinbar irren Handlungen von S, der sehr deutlich geschilderte Verfall von Ms Leiche, die schonungslose Aufarbeitung von S früherem Leben, all das ist eingebettet, nicht nur in großartige Prosa, sondern immer auch in großer Zuneigung zu ihrer Hauptfigur. Dieudonne' bewertet und urteilt nicht, das überlässt sie der Leserschaft.

Auch die Nebenfiguren in diesem Roman leuchten. Der treue Freund Jacky, der S zur Seite steht, Sonia, eine Einsiedlerin, und, sehr verhalten dargestellt, Romain, der Ex-Mann, sowie Nina, die Tochter. Am Ende stehen sie alle fest zu S, und selbst die nur schemenhaft vorkommende Camille, Ehefrau von M, spielt eine gemilderte Rolle. In S Briefen an diese Camille entfaltet sich nicht nur die Beichte einer großen Liebe, für die es keiner Konventionen bedarf, sondern auch S Kampf um Selbstermächtigung. Vielleicht sind S und Camille am Ende Schwestern im Geist. Dieudonne' fordert die LeserInnen auf, nicht in Klischees zu denken, über den Tellerrand zu schauen. Am Schluss erklärt S Jacky:

"Ich will hier eine Beerdigung organisieren, morgen, bei Sonnenuntergang. Ich will, dass du seine Frau und seinen Sohn holst und ihnen erklärst, dass es so geschehen wird und nach meinen Bedingungen, dass sie willkommen sind, ich mich aber nicht von hier wegbewegen werde. Ich will auch, dass Nina dabei ist. Und du natürlich. Ich möchte Blumen, schöne Blumen, keine Grabkränze, sondern Wildblumen, ich will Erde, Feuer, Sterne, richtige Gerüche, Zeit, so viel wir wollen, ein paar Worte an ihn, hausgemachte Tränen, keine künstliche Trauer vom Band, professionell und preiswert. Ich will einen Platz darin haben, darauf habe ich ein Recht, weil ich zu all denen gehöre, die ihn lieben, weil ich in dieser Sache nie jemandem etwas weggenommen habe."

Das ist für mich der quintessentielle Satz dieses Romans. Hier kulminiert alles, was Dieudonne' erzählen wollte.

"Bleib" wird in der Tat im Gedächtnis bleiben, zumindest bei den LeserInnen, die sich auf einen solch wilden Trip einlassen können. Dies ist definitiv mein Roman des Jahres 2024!

 

Kommentare

katzenminze kommentierte am 18. Juli 2024 um 11:51

Schönes Zitat! Deine Rezi macht gleichzeitig Lust auf zwei Romane. Das wirkliche Leben steht jedenfalls nun auf der Wunschliste. ^.^

LySch kommentierte am 25. Juli 2024 um 08:43

"...ließ aber ihrer Protagonistin und deren Kampf um einen Platz in der Welt, immer genügend Raum und Würde. Dasselbe Kunststück bringt sie nun in ihrem neuen Roman fertig."

Das hast du schon ausgedrückt, das ist wirklich eine große Kunst! Der Stil des Romans ist der Hammer!