Rezension

Das muss man gelesen haben!

Irrtum 5,8 - Sara More

Irrtum 5,8
von Sara More

„…Ich sehe einen Jungen, der barfuß und verzweifelt zwischen den Trümmern gräbt. Ich weiß nicht, wer er ist, nur dass er für sieben Personen zum Engel wurde. Zum Lebensretter…“

Am 6. April 2009 um 3:32 Uhr bebte in Italien die Erde. Das Epizentrum lag bei L`Aquila. Es war nicht der erste Erdstoß und nicht der letzte, aber derjenige, der eine Schneise der Zerstörung hinterließ und mehrere hundert Tote.

Es gab eine Vorgeschichte. Auch die erzählt die Autorin in ihrem Fact-Fiction-Roman. Neben einer fiktiven Handlung, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen, wird die Erzählung an passenden Stellen mit konkreten Fakten unterbrochen und untermalt. Diese Fakten sind kursiv dargestellt. Im Anhang findet sich dazu ein ausführliches Quellenverzeichnis.   

Das Vorwort stammt von Giustino Parisse. Er lebt in Onna, einem Ort nahe bei L`Aquila und hat am Tag des Erdbebens nicht nur seine Kinder verloren. Auch Schluss kommt er noch einmal zu Wort. Außerdem erhält der Anhang einen Brief an seine Kinder. Zu diesen Dokumenten verbietet sich jeder Kommentar. Sie lassen mich als Leser verstummen. Es gibt allerdings mehrere Stellen im Buch, wo es mir so ging.

Die Geschichte beginnt im April 2008. Karina, eine junge deutsche Journalistin, weiß, dass ihr Job in Gefahr ist. Sie bewirbt sich um eine Stelle in Rom. Obwohl sie nur eine mündliche Zusage hat und entgegen des Rates ihres Vaters, eines bekannten Chirurgen, reist sie nach Italien und  richtet sich ihr Leben in Rom ein. Shoppen gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Not kennt sie nicht.

Viola lebt mit ihrer Familie in Onna. Ihr Mann arbeitet bei der Behörde. Das Geld reicht zum Leben, aber große Sprünge können sie sich nicht leisten.

Als die ersten Erdstöße in L`Aquila auftreten, machen sie den Leuten Angst. Zwar ist die Gegend als Erdbebenzone bekannt, doch die Häufung der Erschütterungen lässt manche im Auto schlafen.

Die Autorin belegt, dass schon zu diesem Zeitpunkt die Bewohner belogen, betrogen, verraten und verkauft wurden. Wer meint, dass meine Wortwahl übertrieben ist, sollte das Buch lesen.

Eine lancierte Ankündigung eines stärkeren Bebens, das dann nicht eintraf, gab der Politik die Handhabe, gegen einen Wissenschaftler vorzugehen. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung beruhigt.  

Am 6. April kam die Katastrophe. Viola verlor Mann und Tochter und musste um das Leben des Sohnes bangen. Karina geht als Reporter nach L`Aquila.

Die Beschreibung nicht nur der ersten Stunden geschieht sachlich und doch tief emotional. Das ist kein Widerspruch. Es berührt bis ins Innerste, zu lesen, wie eine Mutter versucht, mit den eigenen Händen das Kind aus den Trümmern zu holen, dessen Stimme immer leiser wird. Orte und Zustände werden mit fast akribischer Genauigkeit gezeichnet. Man glaubt, mitten im Geschehen zu sein und ist doch froh, das nicht erleben zu müssen.

Es gab keine Notfallpläne, keine Notunterkünfte, keine Koordination der Hilfsmaßnahmen. Die Autorin setzt den vielen freiwilligen Helfern, die bis an die Grenzen ihrer körperlichen und geistigen Kräfte gegangen sind, mit dem Roman ein großartiges Denkmal. Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Gleichzeitig wird deutlich, dass Schlamperei, Misswirtschaft und Korruption für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich sind. Politiker nutzen die Katastrophe für ihre Profilierung. Manche ihrer Bemerkungen ist an Zynismus nicht zu übertreffen und für einen mitfühlenden Menschen unfassbar.

Berührende Szenen spielen sich in der zerstörten Stadt ab. Karina, die als Journalistin einiges gewohnt war, ist nicht nur erschüttert. Die Zustände und die Fakten, die sie erfährt,  hinterlassen tiefe Spuren in ihrem Leben. Sie lernt Menschen kennen, die ihr die Augen öffnen. Dazu gehört Viola. Für Karina ist es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, dass viele Italiener ihr Glaube selbst unter größtem Leid trägt.

An einigen Stellen gibt es Rückblenden in die Vergangenheit. Der Ort Onna hat schon einmal viele seiner Einwohner und Gebäude verloren. Eine Straße erinnert an das Massaker von 1944. Die Ereignisse sind noch im Gedächtnis vieler Bewohner.

Das Buch hat mich von der ersten Zeile an gefesselt. Zwar sind Viola und ihre Bekannten fiktive Personen, doch sie stehen für das Leid der vielen. Sehr differenziert beschreibt die Autorin die Journalisten. Manchen ging es eben nicht um reißerische Bilder, sondern sie stellten auch kritische Fragen. Diesen Weg geht ebenfalls Karina.

Neben den oben schon genannten Bestandteilen enthält das Buch im Anhang ein Rechercheverzeichnis. Im Gedenken an die Toten sind ihre Namen ebenfalls im Buch niedergeschrieben.

Das Buch hat mich tief bewegt. Ich bin mir keinesfalls sicher, hier in der Rezension die treffenden Worte gefunden zu haben. Die Inkompetenz und Menschenverachtung einiger Verantwortlicher für die Folgen des Erdbebens hinterlässt Wut. Das Leid der Betroffenen lässt sich dagegen nicht in Worten ausdrücken.