Rezension

Am Rand der Gesellschaft

Zum Meer - Kathrin Groß-Striffler

Zum Meer
von Kathrin Groß-Striffler

Bewertet mit 5 Sternen

Sexualität und Verantwortung sind wie Hand und Handschuh, eng zusammen gehörig. Verantwortung trägt man für sich selbst, für seinen Sexualpartner und für die Folgen. Verhütung verhindert ungewollte Schwangerschaft, Safer Sex Aids und andere Krankheiten. Weiss doch jeder.

Aber Saskia ist dennoch schwanger. Verhütet hat sie nicht. Eine Abtreibung wird kurz von ihr erwogen und glücklicherweise hat sie sich durch Nichtstun dagegen entschieden. Weiter darüber nachgedacht, wie es mit Kind sein wird hat sie nicht. Mit Hilfeleistungen in ihrem persönlichen Umfeld kann sie kaum rechnen, der Ex-Partner ist in Brasilien, die Mutter ist gestorben, der Vater unfähig. Es gibt natürlich Ämter, man könnte sich informieren ... aber Saskias Lebensphilosophie besteht darin, in den Tag hineinzuleben, mitnehmen, was zu haben ist und im übrigen darauf zu hoffen, dass es schon irgendwie weiter geht. „Wo ist das Problem?“ fragt sie ihre Freundin Steffi.

Die Probleme lassen nicht auf sich warten, das Kind überfordert sie schnell. Trotzdem bringt sie es mit Ach und Krach durch das erste Lebensjahr. Aber immer mehr verdichtet sich ihr Eindruck, wie ungerecht und gemein es doch sei, dass dieses Kind ständig etwas will und sie die Person sein muss, die es ihr geben soll. Das geht doch nicht, oder? Also bricht Saskia aus. Und haut ab, läßt das Kind zurück, irgendwer wird sich schon darum kümmern....

Die Person der Saskia ist leider eine reale. Es gibt sie wirklich. Es gibt die Mütter, deren Frustrationstoleranz gegen Null geht, die kritikunfähig sind, rein nach dem Lustprinzip leben, die egozentrisch und depressiv sind und in der festen Meinung verharren, die Gesellschaft schulde ihnen etwas. Hilfe gerne, Bedingungen, nein danke. Natürlich, es gibt Gründe dafür, warum sie so sind, wie sie sind... und gelegentlich reisst sich Saskia durchaus am Riemen, nur die letzte Hürde zur Kontinuität nimmt sie nie.

Die Autorin Gross-Striffler hat sich tief in Saskias Mentalität fallen lassen und dasselbe muss auch der Leser tun, wenn er Lesevergnügen haben möchte, denn etwas anderes gibt es nicht in diesem Roman, es sind Saskias Gedanken, aus denen die Seiten bestehen, ihre Gefühle, ihre Anschauungen, und tatsächlich, nach erstem Widerstreben lasse ich mich ein, werde ein bisschen Saskia und der Autorin gelingt es, mir Saskias verdrehte Weltsicht plausibler zu machen.

Saskias Innenwelt ist frustrierend, oft auch schockierend. Ich habe es mit einem Menschen zu tun, der Angst vor Selbsterkenntnis hat, was ja eine Lebensumkehr zur Folge haben müsste. Also raucht Saskia lieber einen Joint, als sich ihren Problemen zu stellen, verharrt in ihrer desolaten Situation, und wirft mit Schuldzuweisungen um sich. „Saskia, Sie müssen noch viel lernen. Ob Sie das wollen, liegt jedoch an Ihnen“, so oder so ähnlich sagt Steffis Tante zu ihr. Doch vorläufig ist Saskia dazu noch nicht bereit.

Realitätsferne kann man diesem Roman wahrlich nicht nachsagen. Er geht unter die Haut, die Protagonistin ist irritierend, ein ständiges Ärgernis. Wie ihre WG-Genossen möchte man ihr ordentlich die Meinung sagen. Doch was würde es nützen? Saskia fliegt Hals über Kopf nach Brasilien, ein weiterer Ausreißversuch, diesmal mit Kind und erwartet, dass Raffael sie heiratet, damit sie eine Arbeitserlaubnis bekommt und dort bleiben kann. Die Liebe ist so gross wie das Land heiss ist, doch in Saskias zuweilen vernebeltes Hirn dringen erste Erkenntnisse: „Und mir fällt auf, dass ich nichts über Raffael weiß, nur dass er dunkel und schön ist. Aber eigentlich sagt das schon alles über ihn, und es sagt auch alles über mich.“

Fazit: Ein grossartiger Roman mit feiner Zeichnung devianten Verhaltens, der auf glattbügelnde Antworten verzichtet und indirekt das Funktionieren der modernen Gesellschaft in Frage stellt.

Kategorie: Gehobene Literatur; Aufbau Verlag, 2014

Kommentare

Naibenak kommentierte am 24. September 2014 um 10:42

Sehr schöne Rezi, macht Lust auf dieses Buch! :-)