Rezension

Atmosphärisch dicht, liebevoll, verstörend

Die Straße der Ölsardinen - John Steinbeck

Die Straße der Ölsardinen
von John Steinbeck

Bewertet mit 4.5 Sternen

Frühmorgens in Cannery Row - das ist die Stunde ihrer Verzauberung. Die Straße schwebt zeitlos in silbrigem Licht. [...] Wie stille Perlen glänzen die Wellblechdächer. [...] Katzen schlüpfen zwischen Lattenzäunen hindurch, gleiten wie Sirup am Boden und halten nach Fischköpfen Ausschau.

Doc ist ein relativ erfolgreicher Kleinunternehmer, der in Cannery Row - der „Straße der Ölsardinen“ - mit Meerestieren aller Art handelt, und noch mit einer Menge mehr. Seine Ware holt er sich meist direkt aus dem Meer, oder lässt sich beim Fang von einer der armseligen, aber doch liebenswerten Gestalten aus seiner Nachbarschaft helfen. Um diese Nachbarschaft geht es John Steinbeck in seinem Roman:

Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen; man könnte mit gleichem Recht sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer - es kommt nur auf den Standpunkt an.

Docs Standpunkt ist pragmatisch: er reagiert zurückhaltend, wenn Mack, der Kopf einer herumgammelnden Mafia-ähnlichen Clique, mal wieder bei ihm im „Western Biological“ auftaucht, weil man bei Mack nie wissen kann, aber Doc hat im Grunde genommen nichts gegen diese Leute. Das spüren die Menschen vom Rande der Gesellschaft, daher mögen sie Doc und versuchen, ihm alles erdenkliche Gute zu tun (was Doc nicht immer kapiert). Da man natürlich stets abgebrannt ist, heuert man dann auch schon mal als Froschfänger bei Doc an, um von dem verdienten Geld später für ihn eine Überraschungsparty zu schmeißen ...

Doch, wirklich, so waren die Menschen in Cannery Row, und man glaubt es John Steinbeck, der diesen Roman 1945 zu Papier brachte. Tatsächlich schienen die Uhren damals noch ein bisschen anders zu ticken, und wir staunen über die naive Liebenswürdigkeit all dieser mehr oder weniger gescheiterten Existenzen. Die Beschreibungen der Bewohner von Cannery Row haben eine Leichtigkeit, die das Buch zu einer wunderbar entspannenden Lektüre macht.

Und dann ist plötzlich alles so traurig. Es schlägt um. Das Komische ist immer wilder geworden, und ich dachte schon die ganze Zeit, halt, halt, moment, nicht so - wie in dem Räuber Hotzenplotz-Film, wo Kaspar durch die ganzen verbotenen Türen geht und ich (5-jährig) kurz den Kino-Saal verließ, weil ich es nicht aushielt...

Irgendwie scheint Steinbeck es zu lieben, die Idyllen, die er gerade noch mit Hingabe geschaffen hat, im nächsten Augenblick zu entzaubern und bloßzustellen. Ich finde das brutal, und ich finde es schwierig, auf diese Weise eine besondere Beziehung zu den Charakteren aufzubauen. Traurig finde ich auch, dass die durchaus sympathischen schrägen Jungs immer in bester Absicht agieren, aber durch ihr Scheitern immer wieder beweisen, dass sie genau das sind, was alle in ihnen sehen.

Aber dann - stehen mir plötzlich schon wieder die Lachtränen in den Augen. Dies ist ein extremes Buch, atmosphärisch dicht und intensiv - und so liebevoll beschrieben. Von der Bildhaftigkeit her ist es außergewöhnlich. Hier muss man auch einmal die Wortkunst des Übersetzers Rudolf Frank erwähnen, der‘s einfach kann.

Etwas gestört hat mich, dass das weibliche Geschlecht vom Autor fast ausnahmslos auf nervige Ehefrauen oder ethisch korrekte Freudenmädchen reduziert wird. Davon abgesehen war John Steinbeck, dessen erster Roman dies für mich war, in jedem Fall die Entdeckung wert.