Rezension

Back To The Future Extremely Extended

Der Anschlag - Stephen King

Der Anschlag
von Stephen King

Jake Epping, Highschoollehrer für Englisch in Maine, erhält die einmalige Gelegenheit, das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern. Von einem todkranken Freund erfährt er von einem Zeitportal in dessen Diner, das jedes Mal, da man es durchschreitet, ins Jahr 1958 führt, also fünf Jahre vor dem Ereignis am 22. November 1963. Nach anfänglichem Zögern akzeptiert Jake die Mission und sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, alle fehlenden Informationen zu sammeln und bis zum großen Tag ein unauffälliges Leben zu führen. Als seine Ersparnisse aufgebraucht sind, ergreift er ein Engagement als Englischlehrer und lernt die junge Kollegin Sadie Clayton kennen. Jake erfährt jene Freundschaft und Anerkennung, die ihm im 20. Jahrhundert nie zuteil wurde, und schließlich sieht er sich mit der schwierigen Wahl konfrontiert, sein mühsam aufgebautes Leben weiterzuführen oder für die Erfüllung seines Auftrags all das aufzugeben ...

Stephen King ist in erster Linie für bluttriefende Schauergeschichten aus dem Horrorgenre bekannt. Mit "Der Anschlag" schlägt er eine gänzlich andere Richtung ein, begibt sich thematisch bedingt sogar auf den steinigen Weg auf den Gipfel der sogenannten Literatur. In seinem mehrere Abschnitte gegliederten Roman läßt er ausnahmslos seinen Protgagonisten Jake Epping in erster Person erzählen.

Wovon handelt nun dieser Roman? Ist es eine Zeitreisegeschichte, ein Liebesmärchen, ein Spionagethriller? Jeder Versuch einer Kategorisierung wäre wohl zu kurz gegriffen. Definitiv enttäuscht werden wohl jene treuen King-Leser, die Untote und tieffliegende Äxte erwarten. Dafür weiß der Roman mit seinem Herzstück, der Darstellung des Lebens in den USA der ausklingenden 1950er Jahre zu bestechen. Jake Epping gelangt durch das nicht näher erklärte Zeitportal in diese Zeit und ist zunächst überrascht von der Intensität der Gerüche und Farben, die auf ihn eindringen. Er berichtet von halbstarken Jugendlichen, die in Lederjacken gekleidet am Straßenrand lungern und ihn anpöbeln. Er genießt das angebotene Starkbier und die fettigen Burger, die seinen Geschmackssinn auf nie gekannte Weise stimulieren. Er lernt die Prüderie kennen, den in den Köpfen verankerten Rassismus, wird skeptisch beäugt, als er seine Unkenntnis lokaler Gepflogenheiten offenbart. Dank seiner eigenen Jugenderinnerungen ergänzt durch umfangreiche Recherchen verleitet Stephen King dazu, die Epoche mit allen Sinnen wahrzunehmen. Als talentierter Wortmaler gelingt es ihm bravourös, diese vielfach verklärte Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf das noch wenig industriegefertigte Essen oder die klarere Luft, sondern zeichnet auch kritisch das bigott-konservative amerikanische Gemüt, das sich begierig an angebotenen Sündenböcken für die oft herrschenden ärmlichen Verhältnisse festkrallt.

Somit versucht der Roman also nicht in erster Linie die Frage zu beantworten, welche Wendungen die Welt genommen hätte, wäre das Attentat auf John Fitzgerald Kennedy fehlgeschlagen. Der gewählte Blick durch die Augen von Jake Epping erlaubt es dem Autor, die große Verantwortung auszudrücken, mit der sich dieser konfrontiert sieht. Immerhin geht es darum, eine der Weichen der Weltgeschichte umzustellen. Würde die Menschheit tatsächlich vom Überleben des Staatsmannes profitieren? Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit, als Lee Harvey Oswald präventiv zu ermorden? Und wird er sein Leben in einer Vergangenheit weiterleben können, wenn die Zukunft neu geschrieben werden muß? Eindringlich schildert Stephen King die Zerrissenheit Eppings zwischen Pflichtschuldigkeit gegenüber der Nachwelt und seinem eigenen bescheidenen Liebesglück, das er durch die Ausführung seines Auftrags aufs Spiel setzen würde.

Als Meister seines Fachs erweist sich in der 31stündigen Hörbuchfassung auch der routinierte Sprecher David Nathan. Das am Schluß kaum mehr vernehmbare, von Husten durchsetzte Krächzen des an Lungekrebs erkrankten Dinerbesitzers Al, die monotonen Stampfgeräusche der Fabrik in Lisbon Falls, jenes Leben, das Stephen King seinem Roman durch umfangreiches Detailwissen einhaucht, vermag Nathan durch seinen stimmlichen Einsatz zu transportieren, ja sogar noch zu verstärken. Das Verhältnis der beiden Persönlichkeiten entspricht dabei jenem von Musiker und Komponist: Durch seine Interpretation entlockt der eine der Partitur des anderen spannende neue Nuancen.

Fazit:
"Der Anschlag" darf zurecht und nicht nur aufgrund seines Umfangs als episches Werk bezeichnet werden. Keine mordenden Untoten, keine dystopischen Zeitreisen, einfach nur ein Schwelgen in Erinnerungen der goldenen Ära der USA, das erwartet Leser und Hörer von King und Nathan.