Rezension

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Beklemmende Schilderungen des Krieges mit sehr blassen weiblichen Figuren, aber starkem letzten Viertel - davor leider langatmig

Winterbienen - Norbert Scheuer

Winterbienen
von Norbert Scheuer

Wäre der ganze Roman so stark und überzeugend wie sein letztes Viertel, würde er von mir alle fünf Sterne bekommen. Leider hat mich das von LeserInnen und KritikerInnen hoch gelobte „Winterbienen“ aber insgesamt enttäuscht. Der Einstieg ins Buch fiel mir sehr schwer. Einerseits fand ich den ruhigen, unaufgeregten Schreibstil des Autors angenehm und liebte die Beschreibungen der Bienenvölker, andererseits war er mir oft auch zu nüchtern, emotionslos und langatmig. Begeistern und faszinieren konnten mich die hoch interessanten, lehrreichen Beschreibungen des komplexen Verhaltens der Bienen. Norbert Scheuers Roman behandelt Themen wie Einsamkeit, Angst, Krieg, Krankheit und Natur tiefgründig. Beeindruckt hat mich der Mut des Protagonisten, der selbstlos sein Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Besonders gegen Ende haben mich die ungeschönten Schilderungen des Krieges schockiert, deprimiert und sehr betroffen gemacht. Auch das Liebesleben von Egidius, das durch zahlreiche, scheinbar bedeutungslose Affären geprägt ist, spielt – leider – eine große Rolle. Der Roman mit seinem Helden, dem alle Frauen zu Füßen zu liegen scheinen, mutet wie eine männliche Fantasie an. Egidius scheint die Frauen nur für ihr Aussehen zu begehren, sich aber nicht für ihre Gefühle oder Gedanken zu interessieren. Oft wirkte es, als wären Frauen für Egidius austauschbare Objekte, wodurch er mir sehr unsympathisch wurde. Problematisch finde ich zudem auch, dass bis auf Maria keine der Frauen ein Eigenleben zu haben scheint. Sie wirken alle wie leblose Requisiten, die nur dazu da sind, die Geschichte des Helden auszuschmücken. Für eine solche nicht mehr zeitgemäße Vernachlässigung der weiblichen Figuren gibt es natürlich Punkteabzug! Obwohl mir Egidius stellenweise sehr unsympathisch war, mochte ich viele Seiten an ihm wirklich gern. Ich schätzte seine Ruhe, seine Freundlichkeit, seine Liebe zu seinen Bienen und sein großes Herz für Menschen in Gefahr. Gegen Ende merkte ich, dass er mir doch in gewisser Weise ans Herz gewachsen war. Leider empfand ich das Buch trotz der sehr kurzen Kapitel und trotz punktuell spannender Momente bis weit über die Hälfte als sehr langatmig. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, mich durch das Buch zu quälen, kam nur langsam voran und spielte immer wieder mit dem Gedanken, die Lektüre abzubrechen. Das großartige letzte Viertel, das mich endlich emotional erreichen und noch einmal viel retten konnte, und den Schluss fand ich dann aber sehr stark und erinnerungswürdig, wodurch mein Urteil etwas milder ausfiel. Im Nachhinein hat sich das Durchhalten für mich doch gelohnt. Eine Leseempfehlung kann ich trotzdem nicht aussprechen.

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: keine! ♥

Inhalt

Es sind die letzten Monate des Krieges, während der Egidius Arimond in der Eifel seine Gedanken und seinen Alltag in einem Notizbuch festhält – nur weiß das zu diesem Zeitpunkt niemand. Aufgrund seiner Epilepsie wurde er als untauglich eingestuft und muss daher im Gegensatz zu seinem Bruder, der als Pilot kämpft, nicht in den Krieg ziehen. Egidius kümmert sich um seine Tiere, unterhält Affären mit verschiedenen Frauen aus dem Dorf und liebt es, seine Bienen zu beobachten. Um sich etwas dazuzuverdienen und sich so weiter die lebenswichtigen Medikamente gegen seine Krankheit leisten zu können, schmuggelt er in Bienenstöcken Juden über die belgische Grenze. Doch der Krieg erreicht langsam die Eifel und die illegalen Fahrten zur Grenze werden immer gefährlicher…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, kurz figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz
Tiere im Buch: +/- Einerseits isst der Protagonist kein Fleisch und kümmert sich sehr gut und liebevoll um seine Tiere, andererseits entnimmt er Honig und tötet unfruchtbare Königinnen und kranke Larven. Außerdem gibt es Beschreibungen von Soldaten, die Tiere essen und töten (Schweine, Katzen, Hunde). Eine Ratte und unzählige Drohnen werden von Bienen grausam getötet. Bienenvölker werden bei Bombenangriffen getötet und jemand trägt einen Echtfellmantel.

Warum dieses Buch?

Da das Buch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 war und viele gute Kritiken erhalten hat, wurde ich neugierig und wollte den Roman auch lesen. Zudem interessierten mich sowohl die Kriegs- als auch die Bienenthematik.

Meine Meinung

Aller Anfang ist schwer (Einstieg: 1 Lilie)

Der Einstieg fiel mir leider sehr schwer – es dauerte länger als bis zur Hälfte des Buches, bis ich zumindest halbwegs in der Geschichte angekommen war. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, mich durch das Buch zu quälen, kam nur langsam voran und spielte immer wieder mit dem Gedanken, die Lektüre abzubrechen.

Ruhige, nüchterne Unaufgeregtheit (Schreibstil: 3 Lilien)

„Tagsüber summen Bienen auf eine andere Weise als in der Nacht, und im Sommer anders als m Winter; ihr Chor klingt wie eine gleichmäßig schwingende Melodie, die von ihren zarten Flügelchen erzeugt wird.“ E-Book, Position 540

Norbert Scheuers Schreibstil ist von längeren, angenehm anspruchsvollen Satzstrukturen und einer gleichzeitig einfachen, authentisch alltäglichen Wortwahl geprägt. Einerseits fand ich den ruhigen, unaufgeregten Schreibstil des Autors angenehm und liebte die liebevollen Beschreibungen der Bienenvölker, andererseits war er mir oft auch zu nüchtern und emotionslos. Zudem empfand ich ihn über weite Strecken des Buches als sehr zäh und langatmig. Das lag vor allem an den inhaltlichen Wiederholungen und den häufigen und detaillierten Beschreibungen des Wetters.

Bienen, Krieg, Affären und Frauen als leblose Requisiten (Inhalt, Themen & Ende: 3 Lilien)

„Ich verheimliche ihr, dass es immer gefährlicher wird wegen der Feindflieger, die nun alles angreifen, was sie sehen; selbst spielende Kinder und auf den Feldern arbeitende Bauern werden gejagt.“ E-Book, Position 1918

In der Danksagung verrät der Autor, dass seine Geschichte auf den wahren Tagebuchaufzeichnungen eines Lehrers aus Krall basiert. Diese Tatsache lässt den Roman noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Man merkt an der langen Lektüreliste mit zahlreichen Literaturtipps für Interessierte, dass der Autor sorgfältig recherchiert hat. Tatsächlich fand ich die Beschreibungen des komplexen Verhaltens der Bienen hoch interessant. Ich konnte viel dazulernen und war beeindruckt und fasziniert von der Kommunikation, dem Zusammenleben und den unglaublichen Leistungen der Bienen. Am Ende gibt es übrigens ein hilfreiches Glossar mit Fachausdrücken aus der Imkerei.

Norbert Scheuers Roman behandelt Themen wie Einsamkeit, Angst, Krieg, Krankheit und Natur tiefgründig, aber über weite Strecken auch langatmig. Beeindruckt hat mich der Mut des Protagonisten, der in entscheidenden Momenten selbstlos sein Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Besonders gegen Ende haben mich die ungeschönten Schilderungen des Krieges, von Tod und Leid, der Bombardierungen und der Brutalität der deutschen Soldaten wirklich schockiert, deprimiert und sehr betroffen gemacht. Durch die Lektüre werden die eigenen Probleme relativiert und man empfindet große Dankbarkeit, in Frieden leben zu dürfen.

Auch das Liebesleben von Egidius, das durch unzählige, scheinbar bedeutungslose Affären geprägt ist, spielt – leider – eine große Rolle. Auch wenn ich im Vorhinein nicht gewusst hätte, wer dieses Buch geschrieben hat, wäre mir beim Lesen irgendwann der Begriff „alter, weißer Mann“ durch den Kopf geschossen. Der Roman mit seinem Frauenheld, dem alle Frauen zu Füßen zu liegen scheinen, mutet wie eine männliche Fantasie an. Egidius schmachtet Frauen an und scheint sie nur für ihr Aussehen zu begehren, sich aber (mit einer Ausnahme) nicht für ihre Gefühle oder Gedanken zu interessieren. Das gruselige Sammeln von Lockenwicklern seiner Eroberungen kann man sich noch schönreden (vielleicht braucht er immer wieder neue für die Fahrten zur Grenze), aber er versucht sogar seine Cousine zu küssen und tröstet sich sofort mit einer anderen, wenn eine Frau mal nicht will. Oft wirkte es, als wären Frauen für Egidius austauschbare Objekte, wodurch er mir sehr unsympathisch wurde. Er nutzt es zudem schamlos aus, dass die meisten Männer im Krieg sind und wirkte auf mich stellenweise sehr egoistisch. So hofft er zum Beispiel, dass Marias Mann schnell wieder an die Front muss, damit er wieder mit ihr schlafen kann. Problematisch finde ich zudem auch, dass das Buch den Bechdel-Test nicht besteht und dass bis auf Maria keine der Frauen ein Eigenleben zu haben scheint. Sie wirken alle wie leblose Requisiten, die nur dazu da sind, die Geschichte des Helden auszuschmücken. Für eine solche nicht mehr zeitgemäße Vernachlässigung der weiblichen Figuren gibt es natürlich Punkteabzug!

Erst gegen Ende konnte mich das Buch, dem vielleicht auch aufgrund der fast vollkommen fehlenden Dialoge (was natürlich in einem Tagebuch authentisch ist) eine gewisse Lebendigkeit fehlt, emotional aufwühlen und berühren. Den Schluss empfand ich (in Kombination mit der Danksagung, die unbedingt gelesen werden sollte) als sehr stark und erinnerungswürdig, wodurch mein Urteil etwas milder ausfiel. Im Nachhinein hat sich das Durchhalten doch gelohnt.

„[…] jedes Volk hat seinen eigenen Duft und seine besondere Melodie, ein leises an- und abschwellendes Raunen, als würden sich zahllose Stimmen leise und vertraut unterhalten.“ E-Book, Position 708

Es ist kompliziert (Protagonist: 3,5 Lilien & Figuren: 1,5 Lilien)

Obwohl mir Egidius stellenweise sehr unsympathisch war, mochte ich viele Seiten an ihm wirklich gern. Ich schätzte seine Ruhe, seine Freundlichkeit, seine Liebe zu seinen Bienen und sein großes Herz für Menschen in Gefahr. Gegen Ende, als es ihm gesundheitlich immer schlechter ging, merkte ich, dass er mir doch in gewisser Weise ans Herz gewachsen war, weil er mir doch sehr leidtat und weil ich gehofft habe, dass es für ihn ein gutes Ende geben wird. Schade fand ich, wie schon weiter oben erwähnt, dass alle Frauen im Buch sehr blass und austauschbar bleiben.

Ein großartiges letztes Viertel als Belohnung fürs Durchhalten (Spannung & Atmosphäre: 2 Lilien)

Leider empfand ich das Buch trotz der sehr kurzen Kapitel, die die Lektüre immerhin ein bisschen beschleunigten, und trotz punktuell spannender Momente bis weit über die Hälfte als sehr langatmig. Erst im letzten Viertel des Buches, als die unmittelbaren Kriegsauswirkungen immer schlimmer und erschreckender werden und als auch Egidius zunehmend mit seinen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, stieg die Spannungskurve an. Die letzten Seiten konnten mich emotional erreichen und für mich noch einmal viel retten, trotzdem sind die spannungslosen Seiten davor natürlich nicht vergessen. Auch atmosphärisch hat mich das Buch erst gegen Ende richtig überzeugen können.

Viel Luft nach oben (Feministischer Blickwinkel: 1 Lilie)

Die Geschlechterstereotypen verzeihe ich bis zu einem gewissen Grad, weil der Roman in einer anderen Zeit spielt. Zusätzlich zum nicht bestandenen Bechdel-Test und den blassen weiblichen Figuren haben mich aber noch einige weitere Dinge gestört: Eine Frau mit Spinnenphobie wird als hysterisch bezeichnet, ein Geistlicher vergewaltigt eine Magd, was in keiner Weise kritisiert wird. Gestört hat mich auch ein sehr seltsamer Gedanke von Egidius. Er hofft in einem Satz, dass eine junge Frau, die von mehreren Soldaten vergewaltigt wurde und deren Baby (das sich auf ihrem Rücken in einem Rucksack befand) dabei getötet wurde, doch hoffentlich irgendwann vergessen könne, was ihr angetan wurde. Wie bitte? Ich fragte mich unweigerlich, ob eine weibliche Autorin jemals einen solchen Satz formulieren würde und konnte ehrlich nur den Kopf schütteln. Es wird deutlich: Einer feministischen Analyse und Kritik hält diese Geschichte nicht stand.

Mein Fazit

Wäre der ganze Roman so stark und überzeugend wie sein letztes Viertel, würde er von mir alle fünf Sterne bekommen. Leider hat mich das von LeserInnen und KritikerInnen hoch gelobte „Winterbienen“ aber insgesamt enttäuscht. Der Einstieg ins Buch fiel mir sehr schwer. Einerseits fand ich den ruhigen, unaufgeregten Schreibstil des Autors angenehm und liebte die Beschreibungen der Bienenvölker, andererseits war er mir oft auch zu nüchtern, emotionslos und langatmig. Begeistern und faszinieren konnten mich die hoch interessanten, lehrreichen Beschreibungen des komplexen Verhaltens der Bienen. Norbert Scheuers Roman behandelt Themen wie Einsamkeit, Angst, Krieg, Krankheit und Natur tiefgründig. Beeindruckt hat mich der Mut des Protagonisten, der selbstlos sein Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Besonders gegen Ende haben mich die ungeschönten Schilderungen des Krieges schockiert, deprimiert und sehr betroffen gemacht. Auch das Liebesleben von Egidius, das durch zahlreiche, scheinbar bedeutungslose Affären geprägt ist, spielt – leider – eine große Rolle. Der Roman mit seinem Helden, dem alle Frauen zu Füßen zu liegen scheinen, mutet wie eine männliche Fantasie an. Egidius scheint die Frauen nur für ihr Aussehen zu begehren, sich aber nicht für ihre Gefühle oder Gedanken zu interessieren. Oft wirkte es, als wären Frauen für Egidius austauschbare Objekte, wodurch er mir sehr unsympathisch wurde. Problematisch finde ich zudem auch, dass bis auf Maria keine der Frauen ein Eigenleben zu haben scheint. Sie wirken alle wie leblose Requisiten, die nur dazu da sind, die Geschichte des Helden auszuschmücken. Für eine solche nicht mehr zeitgemäße Vernachlässigung der weiblichen Figuren gibt es natürlich Punkteabzug! Obwohl mir Egidius stellenweise sehr unsympathisch war, mochte ich viele Seiten an ihm wirklich gern. Ich schätzte seine Ruhe, seine Freundlichkeit, seine Liebe zu seinen Bienen und sein großes Herz für Menschen in Gefahr. Gegen Ende merkte ich, dass er mir doch in gewisser Weise ans Herz gewachsen war. Leider empfand ich das Buch trotz der sehr kurzen Kapitel und trotz punktuell spannender Momente bis weit über die Hälfte als sehr langatmig. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, mich durch das Buch zu quälen, kam nur langsam voran und spielte immer wieder mit dem Gedanken, die Lektüre abzubrechen. Das  großartige letzte Viertel, das mich endlich emotional erreichen und noch einmal viel retten konnte, und den Schluss fand ich dann aber sehr stark und erinnerungswürdig, wodurch mein Urteil etwas milder ausfiel. Im Nachhinein hat sich das Durchhalten für mich doch gelohnt. Eine Leseempfehlung kann ich trotzdem nicht aussprechen.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 1 Lilie
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 3,5 Lilien
Nebenfiguren: 1,5 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 2,5 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 1 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀  Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!