Rezension

Besser als 1001 Nacht!

Golem und Dschinn - Helene Wecker

Golem und Dschinn
von Helene Wecker

Bewertet mit 5 Sternen

An Helene Weckers Debütroman würde ich auch zehn Sterne vergeben, wenn das möglich wäre, denn man wird von ihr mit "Golem und Dschinn" in einen Kindheitstraum versetzt und in eine andere Welt. Ihr Buch ist ein modernes Märchen, das aber so REAL erscheint, es ist ein Märchen für Erwachsene, sogar mit Tiefgang und philosophischen Gedanken über Gott und die Welt! Das habe ich so noch nie gelesen. Näheres folgt hier:

Seit ich in den 70ern die TV-Serie „Bezaubernde Jeannie“ gesehen habe, sind Dschinns Lieblinge von mir. Wie Jeannie ihre Arme kreuzt, blinkert und alles in Ordnung zaubert und wieder in ihrer mit allem Komfort ausgestatteten Flasche verschwindet, ist genau so gut wie Harry Potter. Nach der Jeannie habe ich jedoch nie wieder von Dschinns gehört, so oft ich auch in alte weggeworfene Flaschen guckte. Sehr schade.

Doch dann legt mir Helene Wecker Ahmad in die Arme! Dschinn Ahmad schlägt Jeannie um hunderttausend Volt, er ist aufregend, rauchig, geheimnisvoll, dunkel, oft unwillig und mürrisch. Sein Gesicht leuchtet wie Feuer und er kann mit blossen Händen Metall verformen. Die Flasche, die Ahmad beherbergte und mit der er unfreiwillig in das Jahr 1899 nach Little Syria in New York reiste, war keinesfalls komfortabel und es ist reiner Zufall, dass er beim Schmied und Eisenhändler Arbeely landet und ihm buchstäblich vor die Füsse gespuckt wird. Ein Spuk!

Der Golem reiste mit dem Schiff nach New York und landet beim Rabbi Meyer. Auch der Golem hat aussergewöhnliche Fähigkeiten, die er bzw. sie kontrollieren lernen muss, denn der Golem ist weiblich, geschaffen aus Ton und bekommt vom Rabbi den Namen Chava. Der Golem ist sanftmütig, stark und gefährlich! Auch neugierig, eigenständig und intelligent.

Helene Wecker lässt viele Personen auftreten in ihrem Roman, der sich überwiegend im Little Syria des Manhattens von 1899 abspielt, aber auch einen ausgedehnten Ausflug in die syrische Wüste macht. Alle diese Personen sind mit phanstasievollsten Details versehen, die sie liebenswert und interessant machen. Da ist zum Beispiel der Eisverkäufer Sayed, der einmal ein berühmter Arzt war, die Kaufmannstochter Sophia, der immer kalt ist, der Heimleiter Michael, der vom Glauben der Vorväter abgefallen ist, oder die Figur des alten Yehuda Schaalman, der dem Geheimnis des Lebens auf der Spur ist, der Schamane Ibn Malik, die Wüstentochter Fadwa und viele andere. Mit jeder Person gibt es für den Leser etwas Neues zu entdecken, einem anderen Geheimnis auf die Spur zu kommen, obgeich der Leser ganz genau weiss, dass alles miteinander verwoben sein muss. Und das ist es auch, die Autorin webt ein kunstfertiges Spinnennetz mit mannigfaltigen Verästelungen.

Die Autorin schreibt in ihrer Danksagung, dass sie dank der Unterstützung ihrer Freunde an diesem Roman „nicht verrückt geworden“ sei und es gebührt ihr grosse Anerkennung, dass es ihr gelungen ist, alle diese Verzweigungen genau im Auge zu behalten und auf dem Punkt aufzulösen, kein Fädchen ist hängen gelieben.

Der Leser braucht Geduld in diesem über 600 Seiten langen Schmöker bis Dschinn und Golem aufeinander treffen, aber er langweilt sich bis dahin keine Sekunde.

In angenehmer fliessender Erzählkunst lässt die Autorin die Hauptprotagonisten sowohl Abenteuer erleben, wie auch ihre inneren Konflikte vor dem Leser ausbreiten. Ein bisschen befürchte ich für das Ende. Wird alles zusammenfallen durch eine allzu banale Auflösung wie oft bei Fantasy? Nein, nein, keine Sorge, es gibt ein fulminantes Finale, das alle Erwartungen übertrifft.

Fazit: Eine Geschichte mit brillianter Dynamik, immer neue Einfälle zieht die Autorin aus dem Hut, ihre Phantasie scheint grenzenlos. Dieser Erstling ist bezaubernd und ein grosser Lesespaß!