Rezension

Bewegende Schicksale

Das Leben wie sie es liebten -

Das Leben wie sie es liebten
von Anni Bürkl

Bewertet mit 5 Sternen

Autorin Anni Bürkl, deren Krimis um Teelady Berenike und jene um Wolf Nowak sowie die beiden hist. Romane („Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ und „Die Spionin von Wien“) ich kenne, entführt ihre Leser diesmal in eine ganz andere Welt.

 

In zwei Zeitebenen, nämlich 1938 im sudetendeutschen Reichenberg (tschechisch Liberec) und 1946 in Wien, begleiten wir Loretta, die Tochter des Leiters einer Nervenklinik, und Marek Patzak, einen tschechischen Arzt. Nach der Annexion des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland erhält auch die Nervenklinik von Lorettas Vater eine regimetreue Verwaltung. Kurz darauf werden Kranke abgeholt und verlegt. Wie wir heute alle wissen, werden die Menschen „als unwertes Leben“ in Hartheim und Hadamar ermordet. Marek gelingt es, einige wenige zu retten. Als dann die sowjetischen Truppen vor Liberec stehen, werden alle Deutsche vertrieben und Loretta verliert Marek aus den Augen.

 

„...Essen fühlte sich falsch an. Alles fühlte sich falsch an. Alles war falsch ohne Marek...“

 

Loretta gelingt es, sich nach Wien zu ihrer Tante Emmy Kraft durchzuschlagen. Hier im zerstörten und von den vier Siegermächten besetzten Wien erlebt Loretta die schwierige Nachkriegszeit. Es mangelt an allem, an Wohnraum, an Nahrung und Medikamenten. Jeder ist sich selbst der Nächste.

 

Loretta ist, vie viele andere auch, schwer traumatisiert. Ihr einziger Lebensinhalt ist, ihren Marek zu finden. Dafür freundet sie sich auch mit einem Offizier der Sowjetarmee an, was der amtlich zugewiesenen Mitbewohnerin Ingrid missfällt, obwohl sie selbst ein Verhältnis mit einem Engländer eingeht.

 

Während die Briefträgerin Ursula, die Hausmeisterin Paula und auch Tante Emmy geradlinige Frauen sind, haftet Ingrid etwas Verschlagenes, Nicht-Greifbares an. Manchmal entkommt Ingrid der eine oder andere Halbsatz, aus dem man erkennen kann, welcher Ideologie sie angehört.

 

Meine Meinung:

 

Anni Bürkl ist ein recht authentisches Bild des Jahres 1946 zu zeichnen. Die zerstörte Stadt spiegelt die zerstörten Menschen wieder. Es sind hauptsächlich Frauen, die hier ums Überleben kämpfen. Die Männer gefallen, verwundet, verschleppt oder in Kriegsgefangenschaft sind in der Minderheit.

Sehr interessant ist die Schicksalsgemeinschaft der fünf Frauen Loretta, Emmy, Paula, Ursula und Ingrid. Obwohl Ingrid wird wider Willen zur Lebensretterin, als sie gestohlene Medikamente für Paulas kleine Tochter zur Verfügung stellt, bzw. das eine oder andere am Schwarzmarkt gegen Lebensmittel tauscht. Damit verbirgt sie allerdings ihre wahren Absichten.

 

Während die Wochen und Monate in Wien detailliert und deutlich beschrieben werden, erhält der Leser über Lorettas Vertreibung aus Liberec/Reichenberg nur spärliche Informationen. Zwar erfahren wir einiges - so quasi als Backflash - über die Zeit vor 1938 und dann bis 1945. Über die Umstände der Flucht kann Loretta noch (?) nichts preisgeben, das verdrängt sie beharrlich. Doch der geneigte Leser kann sich die traumatischen Ereignisse vorstellen.

 

Berührend ist, wie Tante Emmy, Witwe nach einem bekannten Arzt, alle Hebel in Bewegung setzt, um der an Fleckfieber erkrankten Tochter Paulas zu helfen. Dazu beruft sie eine Art Benefizveranstaltung ins Leben, bei der die katastrophale medizinische Versorgung thematisiert wird. Eine Frau bringt es auf den Punkt: Die Versorgung sei deswegen so katastrophal, weil die Ärzte fehlen. Entweder gefallen oder ermordet. Ermordet und vertrieben weil sie Juden waren.

 

Interessant ist auch die Darstellung der Offizier der Siegermächte. Als „Honorar“ für seine Erkundigungen nach Marek, verlangt der russische Major keine sexuellen Gefälligkeiten, sondern das Loretta den englischen Offizier bespitzelt, mit dem Ingrid ein Verhältnis hat. Auch hier zeigt sich, wie mit zweierlei Maß gemessen wird: Ingrid rümpft über die russischen Soldaten die Nase, hält sie für minderwertig und nützt gleichzeitig den Engländer für ihre Zwecke.

 

Der Schreibstil passt gut zum Thema, schnörkellos oft abgehackt. Das Ende macht neugierig ob und wie es mit Loretta weitergeht. Ist Marek wirklich am 31. Mai 1945 von seinen tschechischen Landsleuten als Kollaborateur ermordet worden? Ich kann mir eine Fortsetzung sehr gut vorstellen. Eventuell aus Sicht von Marek?

 

Fazit:

 

Eine dramatische Geschichte aus dem Wien von 1946, der ich gerne 5 Sterne gebe.