Rezension

Bewegender Roman

Das Leben wie sie es liebten -

Das Leben wie sie es liebten
von Anni Bürkl

Bewertet mit 5 Sternen

„...Jeden Tag beim Aufwachen war Loretta einen herrlichen Moment lang wieder zuhause, zuhause in Reichenberg. Bei Marek und ihren Eltern...“

Schnell begreift Loretta allerdings, dass sie in Wien ist, in Wien des Jahres 1946. Sie lebt bei ihrer Tante Emma Kraft, der Witwe eines Arztes.
Die Autorin hat einen  bewegenden Roman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen.
Der Schriftstil ist abwechslungsreich. Auffallend sind insbesondere die Stellen, wo die Sätze aus einem bis drei Wörtern bestehen. Hier wird Loretta von heftigen Erinnerungen überrascht, die zurücklegende Ereignisse extrem komprimieren.
Loretta kennt nur ein Ziel. Sie möchte ihren Mann Marek finden. Auf mich als Leser wirkt sie verstört und lebensfremd. Viel muss geschehen sein, was sie noch nicht verarbeitet hat.

„...Essen fühlte sich falsch an. Alles fühlte sich falsch an. Alles war falsch ohne Marek...“

In Rückblenden, die mit den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das Sudetenland beginnen, wird die Vergangenheit nach und nach lebendig. Lorettas Vater ist Direktor einer Nervenheilanstalt. Dort probiert man moderne Behandlungsmethoden. Bald aber wird ein neuer Direktor eingesetzt. Plötzlich verschwinden Patienten. Es gilt die Warnung für Loretta:

„...Am besten ist es für dich, hier nichts zu sehen und nichts zu hören...“

In Wien sind die Verhältnisse schwierig. Es gibt kaum etwas zu essen. Männer, zurück aus dem Krieg, haben sich verändert. Gewalt nimmt zu. Die medizinische Versorgung ist grenzwertig. In einer Versammlung, die Emma Kraft inszeniert hat, um vor allem bessere Verhältnisse für die Kinder zu schaffen, bringt es eine Frau auf den Punkt. Der größte Teil der Wiener Ärzte waren Juden. Sie sind tot.
Emma Kraft bekommt eine Wohnungssuchende zugewiesen. Die junge Frau erscheint sehr undurchsichtig.
Positiv dagegen verhält sich die Briefträgerin Ursula. Sie erkennt Lorettas Verstörtheit und nimmt sich ihrer an. Sie gibt außerdem von den Früchten ihres Gartens ab.
An verschiedenen Stellen wird deutlich, dass es zwischen den Siegermächten die ersten Unstimmigkeiten gibt. Jeder hat andere Interessen. Das macht die Verfolgung von Verbrechen schwierig.
Was ist in Reichenberg, jetzt Liberec, in den letzten Tagen wirklich geschehen? Einiges spricht dafür, dass sich die Täter geschickt aus der Affäre gezogen haben. Loretta musste als Deutsche die Stadt verlassen. Ihr Mann Marek aber ist Tscheche. Was ist mit ihm passiert?
Das Ende ruft regelrecht nach einer Fortsetzung.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die detaillierte Beschreibung der Zustände ihn Wien vermittelt ein gutes Bild von Not und Zerstörung. Die Geschehnisse in Reichenberg dagegen werden nur schlaglichtartig behandelt.