Rezension

Die Autorin weiß, wovon sie spricht

Pullikalb - Christina Kunellis

Pullikalb
von Christina Kunellis

Bewertet mit 5 Sternen

"Die Muscheln, sagte sie leise, haben eine richtig harte Schale. Aber innen drin, da sind sie sehr, sehr weich. Und manchmal da dringt ein Fremdkörper in so eine Muschel ein. Ein scharfes, spitzes Splitterstück, das verletzt ihr weiches Inneres und tut ihr furchtbar weh. Und egal, wie sich die Muschel windet, egal was sie tut - sie wird es nie wieder los. Irgendwann ist die Verzweiflung und der Schmerz so groß, dass die Tränen der Muschel zu fließen beginnen, und diese Tränen beginnen den Splitter einzuhüllen, /.../ bis eine runde, glatte Perle entstanden ist! Und dann ist da kein blöder Splitter mehr und auch kein Schmerz und keine Verzweiflung - nur noch diese Kostbarkeit!"

 

Die 17-jährige Merle hat kein einfaches Leben. Ihre Mutter war seit ihrer Schwangerschaft überfordert und stellt auch heute die eigenen Interessen höher als die ihrer Tochter. Als sie Merle Heilig Abend bis ins neue Jahr hinein allein lässt, um mit ihrem neuen Partner Dieter allein sein zu können, ist der Punkt erreicht, der das Fass zum Überlaufen bringt. 

Warum nur, merkt ihre Mutter nicht, dass das, was ihre Tochter sagt, nicht das ist, was sie denkt? Warum fällt niemand sonst in ihrem Umfeld auf, was in Merle selbst vorgeht? 

 

Ein Unfall bringt Merle durch Zufall an einen Ort, an dem alles anders zu werden scheint. Oder auch nicht? Mit dieser Frage lässt uns die Autorin Christina Kunellis lange im Unklaren.

Die studierte Agrarwissenschaftlerin, die als Stadtkind heute selbst einen Bio-Milchviehbetrieb betreibt, weiß also, wovon sie spricht. Sie selbst hat verschiedene Höfe und die Arbeit mit sozial auffälligen Jugendlichen kennengelernt. Eine gute Expertise für das Buch, und das merkt man in jeder Zeile.

Merle ist als Figur extrem stark gezeichnet. Ich habe als Leser mit ihr mitfühlen können, habe mich mit ihr gefreut, noch öfter aber gelitten. Am liebsten hätte ich das Mädchen in den Arm genommen. Dann wieder hätte ich sie am liebsten ganz fest an den Schultern geschüttelt. Die Autorin versteht es Merles Gefühlswelt, so exzessiv sie auch sein mag, bildhaft zu beschreiben und dabei den Leser an die Hand zu nehmen. Es gab tatsächlich Szenen, an denen ich kurz pausieren musste beim Lesen. Merle, die zum ersten Mal erfährt, was aufrichtige Zuwendung, Familie, Gehalten und Ausgehalten werden bedeutet. Die damit aber nur schwer umgehen kann, die nicht nur gegen das Außen, sondern vor allem gegen sich selbst rebelliert. Es ist eine Achterbahn der Emotionen.

 

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Merle geschrieben. Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ihre Realität mit fiktiven Elementen verbunden wird. Das hat mich tatsächlich auch noch nach dem Lesen des Buches beschäftigt und beschäftigt mich immer noch. Diese offene Frage hat das Lesevergnügen, aber überhaupt nicht beeinflusst. Wenn man von "Vergnügen" bei diesem Roman sprechen kann. Es ist eher harte Kost, weil er ein spezielles und sehr sensibles Thema abhandelt, dass gar nicht so selten auftritt wie wir alle umhin glauben: Selbsthass, Selbstverletzung, bis hin zur Selbstaufgabe, Vergewaltigung und Suizid. Gibt es überhaupt einen Weg aus dem Teufelskreis von Angst, Traurigkeit, Überforderung und inneren Kämpfen? 

 

Neben all den dunklen Schatten gibt es aber auch wundervolle Momente, die mir in Erinnerung geblieben sind: der alte Opi, die Schlittenfahrt, das Pullikalb, herzhaftes Lachen, Füreinander da sein, der Ausritt im Winter, der Spaß im Freibad und natürlich die erste große Liebe. 

 

Besonders schön finde ich die Assoziation von Merles schwierigem Start mit der Geburt des "Pullikalbs". Ich mag den Titel, weil er mich neugierig gemacht hat und das hält, was er verspricht. Genau wie das Cover. Für mich passt es perfekt zum Inhalt des Buches. 

 

Fazit:

Wie kann man die Leere in sich füllen, die einen in den Abgrund zu reißen droht; wie den Schmerz bekämpfen, der übermächtig scheint? Ein sehr bewegendes, aufrüttelndes Buch, eine Herausforderung an den Leser, weil Merles Schmerz auch für ihn spürbar und erlebbar wird. Aber mit einer Botschaft, die Mut macht, mit dem starken Glauben, dass keiner von uns ungeliebt ist in dieser Welt. Auch wenn es sich viel zu oft so anfühlen mag.