Rezension

Die Überlebenden des Sturms

Der Sturm -

Der Sturm
von Jane Harper

Bewertet mit 4.5 Sternen

Handlung

Vor zwölf Jahren traf der junge Kiernan eine leichtsinnige Entscheidung, die dazu führte, dass zwei Menschen ums Leben kamen – einer davon war sein Bruder Finn. Auch ein Mädchen verschwand in jener Nacht, die die Menschen von Evelyn Bay niemals vergessen würden, spurlos und ward nie wieder gesehen.

Nun kehrt Kiernan mit seiner Freundin Mia und der gemeinsamem kleinen Tochter Audrey zurück nach Evelyn Bay, um seine Eltern zu unterstützen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Doch als eine Frau tot am Strand gefunden wird, steht er schnell wieder im Fokus der Aufmerksamkeit und muss erkennen, dass diese Vergangenheit lange Schatten wirft.

Grundlegende Themen

Jane Harpers Thriller sind subtile, leise Dramen, die sich langsam entwickeln, und meines Erachtens doch nie langweilig werden. Was wirklich geschehen ist, das wird in Rahmenhandlungen mit psychologischen Tiefgang verpackt – und ist im Grunde zweitrangig. Wichtig ist, was die Geschehnisse mit und aus den beteiligten Menschen machen, und da brilliert Harper mit leichter Hand und doch emotionaler Wucht.

All das spielt sich an Schauplätzen ab, die mehr sind als nur pittoresker Hintergrund, die fast schon zu treibenden Kräften werden. In »Der Sturm« ist es die tosende Küste Tasmaniens, die Opfer fordert wie ein launischer Gott; die Flut ist eine unaufhaltsame, archaische Macht. Die Szenen, in denen Charaktere in jähem Schrecken erkennen müssen, dass sie sich in einem tödlichen Wettlauf mit der Flut befinden, lesen sich beklemmend, klaustrophobisch, legen sich wie ein Schraubstock um die Leser:innenbrust.

Spannungsbogen

Viel der Spannung in »Der Sturm« speist sich aus einem nie verheiltem Trauma; die tote Frau am Strand erweckt schlafende Dämonen zum Leben.

Alte Wut, alter Hass, alte Schuldzuweisungen kochen hoch und verlangen danach, dass endlich alles ans Licht gezerrt wird, was damals Kiernan zur Last gelegt und nie näher hinterfragt wurde, auch nicht von ihm. All die Jahre hat sich die Schuld tiefer und tiefer in ihn hineingefressen, und nun muss er erkennen, dass es mehr als eine Wahrheit gibt – und dass Menschen in seinem Leben das wussten, aber schwiegen.

Die Frage, wer die Frau am Strand getötet hat, trat für mich in den Hintergrund. Wie so oft in Jane Harpers Büchern, interessierten mich vor allem die menschlichen Abgründe, die psychologischen Verstrickungen und das Kaleidoskop der Wirklichkeiten. Hier ist nichts eindeutig, aber das Streben nach Eindeutigkeit treibt die Geschichte voran. Nein, die Spannung brennt nicht, sie schwelt – und doch konnte ich mich ihr nicht entziehen. Like a Slow Burn, leading us on and on and on…

Charaktere

Harper zeichnet ein Geflecht von zwischenmenschlichen Beziehungen, das zunehmend zum Fangnetz wird.Sie beschreibt die Charaktere ungemein authentisch und vielschichtig, mit all ihren Schwächen und Konflikten, ihrer gärenden Wut und ihrer geradezu shakespearschen Tragik. Da war kein einziger dabei, bei dem ich je anzweifelte, dass es einen Menschen wie diesen auch in der Realität geben könnte.

Schreibstil

Wie immer beeindruckte mich Jane Harper mit großartigen Landschaftsbildern und dichter, düsterer Atmosphäre. Alles ist geschickt getimt: In Dialogen, Rückblenden, Beschreibungen finden sich fein dosierte Hinweise; nach und nach setzt sich ein Bild der Hintergründe und verborgenen Wahrheiten zusammen. Und Schuld ist hier letztlich ein so kompliziertes wie leidvolles Geflecht, einfache Antworten sucht man vergeblich.

Jane Harper ist keine Autorin für ungeduldige Leser:innen, ihr Stil ist einer der sorgfältigen Erkundung und Enthüllung. Doch die Geduld lohnt sich meines Empfindens.

Fazit

Wie bei Jane Harper üblich, ist auch »Der Sturm« eine subtile erzählte Geschichte des Unausgesprochenen und Angedeuteten. Wichtiger als die Aufklärung des Falls sind die menschlichen Dramen, die sich mal unterschwellig, mal ganz offensichtlich abspielen. Dementsprechend versteckt sich die Spannung zwischen den Zeilen und erfordert geduldiges, sorgfältiges Lesen.

Das kann man mögen oder auch nicht – ich liebe es.