Rezension

Die Wahrheit

Zwei fremde Leben - Frank Goldammer

Zwei fremde Leben
von Frank Goldammer

Spannender als mancher Krimi! Geschickt wechselt der Autor zwischen den Zeitsträngen und Personen, heizt die Neugier des Lesers immer mehr an, fesselt ihn ans Buch.

1973 will Ricarda in der Dresdner Frauenklinik ihr Kind entbinden. Da es bei der Geburt Probleme gibt, spritzt ihr der Arzt etwas und sie dämmert weg. Als sie wieder aufwacht wird ihr gesagt, dass das Kind eine Totgeburt war. Das Brisante dabei ist, dass der Arzt ihr Vater und schon die ganze Zeit gegen das Kind gewesen ist. Ricarda bekommt den Leichnam ihres Babys nicht zu sehen und kann darum nicht an dessen Tod glauben. Sie ist überzeugt, dass ihr Vater ihr das Baby weggenommen hat und will das beweisen.

 

Zufällig erfährt der junge Kriminalpolizist Thomas Rust davon, dessen Frau wegen Schwangerschaftsproblemen auf der gleichen Station liegt. Ihm ist in der bewussten Nacht ein Auto mit Berliner Kennzeichen aufgefallen, das am Hinterausgang der Klinik wartete. Rust ist sehr ambitioniert und hat das Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmt. In Absprache mit seinem Vorgesetzten und dem seines Stasi-Führungsoffiziers beginnt er nachzuforschen und bringt damit sich, seine Frau und sein ungeborenes Kind in Lebensgefahr.

 

1989 versucht die 16jährige Claudia Behling mit einer Gruppe Gleichaltriger aus einer Laune und erster Verliebtheit heraus über die tschechische Grenze und Ungarn nach Österreich zu kommen. Sie wird erwischt und zu ihren Eltern zurückgebracht, danach erfährt sie, dass sie adoptiert wurde. „Es kam ihr vor, als wäre ihr bisheriges Leben nur eine Projektion, als wäre sie nur eine Statistin in einem Film. … Und sie war gefangen in dieser Familie, in diesem Haus, in dieser Welt.“ (S. 66) Als im Herbst die Grenze öffnet, packt sie ihre Sachen und verschwindet.

 

Frank Goldammer zeigt das schwierige Leben der Menschen in der DDR, das oft einem Balanceakt oder Versteckspiel gleicht, und wie es ihnen nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ergeht. Sie werden abgewickelt, genau wie ihre ehemaligen Betriebe, und fühlen sich oft als Menschen 2. Klasse.

Man spürt den Schmerz, die Aussichtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit seiner Figuren sehr direkt. Ich habe mit Ricarda, Claudia und Rust mit gefiebert und gelitten.

Vor allem die beiden Frauen taten mir unglaublich leid.

 

Obwohl Ricardas Eltern und ihr Mann ihr immer wieder versichern, dass es kein Kind gibt, verbringt sie die nächsten 20 Jahre mit der Suche nach ihm, zerstört damit ihre Ehe und verliert fast alle Freunde. „So eine Suche kann ganz schön einsam machen.“ (S. 317) Sie findet auch immer wieder Indizien, aber nie Beweise, nie das Kind, also glaubt ihr auch niemand. Im Gegenteil, man hält sie für verrückt und macht ihr das Leben schwer. Sie ist zu unbequem für den Staat und ihren Vorzeigevater, den berühmten Frauenarzt mit Veröffentlichungen und Reisen in den Westen.

 

Claudia geht es ähnlich. Sie hält den Leistungsdruck und die Enge zu Hause nicht mehr aus. Ihr Vater ist ein hoher Partei- und Stasifunktionär, die Anforderungen an sie sind extrem hoch. Vor allem ihre Mutter macht es ihr nie leicht. Um sie endgültig zu strafen, vernichteten ihre Eltern alle Adoptionsunterlagen, nachdem sie es ihr gesagt haben. Auch Claudia sucht jahrzehntelang erfolglos nach ihrer leiblichen Mutter und muss immer wieder Rückschläge einstecken. „Immer, wenn ich denke, ich bin einen Schritt weiter, laufe ich wieder nur ins Leere.“ (S. 329)

Thomas Rust ist eine sehr ambivalente Persönlichkeit, extrem wandelbar. Man ist sich nie sicher, auf welcher Seite er eigentlich steht und was er bezweckt. Zu Beginn ist er 100%ig von der DDR überzeugt, aber je tiefer er sich in den Nachforschungen verstrickt, desto mehr zweifelt er am System und an allem woran er bisher geglaubt hat. Trotzdem lässt er sich nie richtig in die Karten gucken – eine wirklich spannende Persönlichkeit.

 

Seit dem „Angstmann“ bin ich ein großer Fan von Frank Goldammer und auch bei „Zwei Fremde Leben“ hatte er mich von der ersten Seite an gepackt. Er beschäftigt sich mit dem Thema Kindesentzug und Zwangsadoption in der DDR, gesteuert von der Stasi und der Regierung. Geschickt wechselt er zwischen den Zeitsträngen und Personen, heizt die Neugier des Lesers immer mehr an, fesselt ihn ans Buch. Ich hatte lange keine so große Sogwirkung mehr bei einem Roman und habe ihn an nur einem Tag am Stück gelesen – er war spannender als mancher Krimi!

Auch das Setting des Buches übt einen ganz besonderen Reiz auf mich aus, da ich als gebürtige Dresdnerin die beschriebenen Orte ganz genau kenne.

 

5 Sterne und meine Leseempfehlung für dieses Highlight!