Rezension

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Die Zeit war kein Skihang

Wie hoch die Wasser steigen
von Anja Kampmann

"Die Zeit war kein Skihang, den man einfach wieder hinabfahren konnte." Man kann nicht nahtlos an die Vergangenheit anknüpfen. Was dann aber tun, wenn die Gegenwart zerbricht?

Waclaw, auch eingedeutscht Wenzel genannt, arbeitet auf einer Ölplattform vor der afrikanischen Küste. Körperliche Schwerstarbeit, und das in ständiger Gefahr. Einen Unfall hat er überlebt, viele weitere miterlebt. Als nach einer stürmischen Nacht sein Freund und Kollege Matyas verschwunden ist, wird zwar die Plattform abgesucht, aber eine Rettungsaktion ist sinnlos, und so wird zur Tagesordnung übergegangen. Aber Waclaw hat seinen Halt verloren. Was nun?

Zunächst sucht er das Zimmer an Land auf, das er sich mit Matyas geteilt hat. Sie waren mehr als Kollegen; was sie alles verbunden hat, wird nur angedeutet - Waclaw spricht nicht darüber. Dann bringt er die Sachen seines Freundes nach Ungarn zu dessen Halbschwester und lernt dabei eine ihm noch unbekannte Seite seines Freundes kennen. Wohin nun? Seine Arbeit kann und will er nicht wieder aufnehmen. Erinnerungen tauchen auf: An seine Kindheit, an seine Freundin Milena. Und so nähert er sich auf Umwegen der Vergangenheit: Zunächst fährt er zu Alois, seinem Onkel, der nun seinen Lebensabend in Italien verbringt und ihm eine Brieftaube mitgibt, die er zurücksenden soll. Über einen Umweg landet er schließlich in Bottrop in der Zechensiedlung, in der er aufgewachsen ist. Und dann ist da noch Milena. Lange hat er mit ihr zusammengelebt, doch da das Geld nicht langte, ist er schließlich als "Arbeitsnomade" durch die ganze Welt gereist, bis Milena befand, dass das keine Beziehung mehr sei. Doch auch sie ist nicht mehr erreichbar.

Anja Kampmann zeichnet ein modernes Arbeiterleben: Wie Waclaws Vater einst von Polen nach Deutschland aufbrach, sich als Bergarbeiter verdingte und damit seine Lunge ruinierte, so ist nun auch Waclaw unterwegs. Er ist nicht an einem neuen Ort, an dem er vielleicht Wurzeln fassen könnte, wie es der Vater versucht hat, sondern seine Arbeitseinsätze wechseln. Auch die Crew wird ständig ausgewechselt. Die Männer, auf der Suche nach Geld, sind entwurzelt. Da ist einer, der das Foto seines neugeborenen Sohnes hütet, doch er hat den Sohn nie gesehen und dessen kurzes, schon beendetes Leben nicht miterlebt. Wie soll da die Partnerschaft mit seiner Frau halten? Und so treiben die Männer haltlos, verpulvern das so hart verdiente Geld für Frauen, Alkohol und Glücksspiel. Auch untereinander gibt es kaum Kameradschaft; Spott ist an der Tagesordnung und selbst Vergewaltigung kommt vor. Eine einzige Ausnahme gab es nach einem früheren Todesfall, als der Iraner Shamaz die Belegschaft zusammenschweißt. Doch die kurze Gemeinschaft zerfällt. Waclaw bleibt nur eine Telefonnummer.

Kampmann zeichnet eine existentielle Einsamkeit, die berührt und verstört. Waclaw bleibt nichts an menschlicher Gemeinschaft. Am Ende des Buches steht er "am Rand"; er befindet sich am Meeresstrand. Früher stand auf den Karten der unerforschten Gebiete "Hic sunt dracones" - Gefahr! Was auf ihn wartet, erfahren wir nicht, das wird der Phantasie des Lesers überlassen. Es bleibt noch ein kurzer Rückblick: Waclaw als Jugendlicher heimlich an der Turnerringen, an denen er leicht und frei schwingen konnte. 

Der Inhalt dieses Buches ist verstörend: Waclaws Einsamkeit ist überwältigend. Dazu passt Kampmanns Sprache. Es gibt wenige Dialoge, doch sie beschreibt die Umgebung so genau, dass für mich als Leser sehr detaillierte Bilder entstehen. Auch wenn Waclaw sich nicht direkt mitteilt, werden seine Gefühle hierdurch vermittelt. Das ist literarische Kunst.