Rezension

Diesen Roman Elena Ferrantes zu lesen, das ist wie eine Heimkehr.

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen - Elena Ferrante

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
von Elena Ferrante

Bewertet mit 5 Sternen

Und wieder einmal Neapel. Diese blöden Erwachsenen - in ihrem neuen Neapelroman schlüpft Elena Ferrante in die Rolle eines Teenagers, der an seinen Eltern verzweifelt. Nicht immer ganz überzeugend. Elena Ferrante ist nicht die erste Vertreterin ihrer Zunft, die Neapel ein literarisches Denkmal gesetzt hat - aber sicherlich die erfolgreichste. Es ist ein Roman, der das Erwachsenwerden einer Schülerin mit ihrer Stadt und ihrem ganzen Land in nahezu genialer Weise verknüpft. In "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" führt die Autorin ihre Leser wieder in die drittgrößte Stadt Italiens, aber diesmal ins Neapel der Besserverdiener. Ging es in ihren früheren Romanen in die schäbigen Elendsquartiere Neapels, so ist nun die Oberstadt am Vomero-Hügel der Schauplatz - wo die Besserverdiener leben und von wo man einen postkartenwürdigen Ausblick auf den Vesuv und die prächtige Bucht von Neapel har. Die Hauptfigur, die Schülerin Giovanna, zu Beginn der Handlung 1992 ist sie 13 Jahre alt. Sie muß lernen, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Also, was ging in der Welt der Erwachsenen vor, im Kopf von höchst vernünftigen Menschen, in ihren ideenbeladenen Körpern, fragt sich Giovanna. Erst entdeckt sie, dass es da eine Tante und noch mehr Verwandtschaft in der Unterstadt gibt, von denen sie gar nichts wusste. Ihr Vater, Gymnasiallehrer und stadtbekannter Intellektueller, will mit denen da unten nichts zu schaffen haben. Dann kommt heraus, dass der Vater die Mutter schon seit vielen Jahren betrügt, und zwar mit der Frau seines besten Freundes und Mutter von Giovannas Freundinnen Angela und Ida. Verunsichert macht sich Giovanna auf die Suche nach der Herkunft ihres Vaters, der aus einem fremden Neapel stammt, einem leidenschaftlichen und vulgären Neapel. Dort treibt sie sich herum und trifft auf eine Welt voller verstörender Geheimnisse. Als sie bei einem Abendessen bemerkt, wie ein Freund der Familie unterm Esstisch zärtlich die Füße ihrer Mutter streift, ist sie vollends erschüttert. Die Eltern trennen sich. Giovanna, bis dahin eine Musterschülerin mit Faible für klassische Literatur, lässt in der Schule stark nach und interessiert sich bald mehr für Jungs als für Bücher.
Freundschaft und Familienzwist, Liebe und Verrat, Vergangenheit, die sich nicht verdrängen lassen will, finden die Leser auch im neuen Roman wieder. Und einmal mehr ist Neapel selbst eine der Protagonistinnen. Gegen den Willen der Eltern besucht Giovanna die Tante Vittoria, steigt ab aus den lichten Höhen des Rione Alto und lernt, wie in Neapel topographische Höhe und soziale Schicht zusammenhängen. Die Assoziation verlogene Reiche oben und herzensgute Arme unten wirkt allerdings manchmal etwas klischeehaft. Die Handlung plätschert ohne große Höhepunkte dahin, der Lesesog mag sich nicht recht einstellen. Die Schilderungen von Sexualität sind derb und nicht unbedingt gelungen. Nach der Lektüre dieses neuen Romans bleibt der Eindruck, dass die Autorin eine 1944 geborene Ich-Erzählerin authentischer darstellen kann als einen 1979 geborenen Teenager. Nichts desto trotz, "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" ist so fesselnd wie Ferrantes außergewöhnliche Romane. Mit einem veritablen Spannungsbogen erzählt ist dieses Buch erschütternd und unbequem - und gerade deshalb so gut! Wer sich gerne in Abgründe ziehen lässt und Dramatik liebt, ist hier sehr gut beraten! Lesen!