Rezension

Dramatische Frauenschicksale

Die verlorene Frau - Emily Gunnis

Die verlorene Frau
von Emily Gunnis

Bewertet mit 5 Sternen

1960 wird die dreizehnjährige Rebecca Waterhouse über Nacht zur Vollwaise, nachdem ihre Eltern nach einem heftigen Streit und den Gewaltausbrüchen des vom Krieg traumatisierten Vaters sterben. 54 Jahre später entbindet Rebeccas Tochter Jessica 2014 ihre schwerkranke Tochter Elisabeth zur Welt. Jessie ist völlig verängstigt und weiß nicht, was sie tun soll. Sie schnappt sich ihr Neugeborenes und verschwindet aus dem Krankenhaus. Die Suche nach ihr wird zum Wettlauf gegen die Zeit, und alle Hoffnung ruht auf Jessicas Halbschwester Iris, gemeinsam mit Jessicas Ehemann Harvey die junge Mutter und ihr krankes Baby rechtzeitig zu finden…

Emily Gunnis hat mit „Die verlorene Frau“ einen sehr spannenden und gefühlvollen Roman vorgelegt, der einmal mehr aufzeigt, dass Totschweigen innerhalb einer Familie die Wiederholung von gewissen Dingen fast vorprogrammiert. Der flüssige, emotionale und bildhafte Erzählstil der Autorin nimmt den Leser sofort mit in die Handlung hinein, wo er sich gleich zu Beginn einem recht aufreibendem Prolog stellen muss, der für den weiteren Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung sein wird. Mit wechselnden Perspektiven, Tagebucheinträgen und unterschiedlichen Zeitebenen bringt die Autorin ihre Geschichte dem Leser nahe, lässt Einblicke in die Vergangenheit zu und verwandelt die Gegenwart in ein spannendes Psychodrama. Stück für Stück entblättert der Leser alte Familiengeheimnisse und dramatische Ereignisse und setzt diese nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen. Gunnis spiegelt auch die schwierigen Beziehungen unter den einzelnen Familienmitgliedern wieder, die ebenfalls ihren Beitrag zu Auflösung der Geheimnisse beitragen. In ihrer Geschichte bietet die Autorin dem Leser eine große Themenvielfalt an, so geht es neben häuslicher Gewalt um Kriegstraumata, Vergewaltigung, unterschiedliche Pychotherapieformen bis zu Kindbettdepressionen und Frauen, die von ihren Männern immer wieder unterdrückt werden. Der Spannungslevel wurde schon mit dem Prolog sehr hoch angelegt, doch die Autorin weiß ihn mit ihrer Erzählweise immer weiter zu steigern bis zum finalen Schluss, so dass der Leser das Buch kaum aus der Hand legen kann.

Die Charaktere sind sehr differenziert angelegt, lebendig ausgestaltet und  authentisch. Ihre unterschiedlichen menschlichen Eigenschaften wirken überzeugend, so dass der Leser ihnen gerne folgt und mit ihnen leiden und hoffen kann. Rebecca hat schon als junges Mädchen ein schweres Trauma erlebt, dass sich durch ihr ganzes Leben zieht. Das Verhältnis zu ihrer Tochter Jessica ist schwierig, auch mit den Männern in ihrem Leben hatte sie bisher kein Glück. Aber sie besitzt so viel Wärme und Einfühlungsvermögen, dass man sie nur bewundern kann. Ihre eigene Mutter Harriet wurde ebenfalls vom Schicksal gebeutelt, was einem als Leser schwer an die Nieren geht. Jessica benimmt sich oftmals wie eine kleine Göre, die ständig rumnörgelt und jammert, weshalb man ihr zu Beginn eher mit Skepsis begegnet. Iris ist Rebeccas jüngste Tochter und Jessicas Halbschwester, sie durchlebt gerade die Scheidung von Ehemann James. Iris hat als Reporterin den richtigen Biss, um Dinge an die Oberfläche zu bringen, die lange verschüttet waren. Harvey Roberts ist Rebeccas Jugendfreund und erster Ehemann, der Vater von Jessica.

„Die verlorene Frau“ ist eine sehr berührende, tiefgründige Familiengeschichte voller verschütteter Geheimnisse und alten Schicksalsschlägen, die mit viel Spannung und Gefühl erzählt wird. Am Ende ist der Leser sprachlos und emotional gebeutelt, aber einmal mehr begeistert. Eine Geschichte, die man nicht so schnell vergisst. Absolute Leseempfehlung!