Rezension

Eigentlich wollen Bienen nichts als Honig sammeln

Graue Bienen
von Andrej Kurkow

Ukraine im Krieg, ein paar Jahre zurück. Zwei Männer, der Bienenzüchter Sergej und Opportunist Paschka, harren auf sich allein gestellt in ihrem Dorf zwischen den Fronten im Donbass aus. Über ihre Köpfe hinweg fliegen die Geschosse, manchmal schlägt im Dorf eines ein. Was den beiden beim Überleben hilft ist Sturheit, Nihilismus, Nachbarschaftshilfe und die Erfahrung, dass irgendwann jedes Regime durch das nächste abgelöst wird. Nah an den Menschen, nahe an der Zeit, literarisch ein Highlight.

Der Autor Andrej Kurkow gehört ab sofort zu meinen schreibenden Lieblingszeitgenossen. Sein Roman Graue Bienen erzählt von den Menschen, die in einem Kriegsgebiet leben und ihren Überlebensstrategien, er ist aber auch literarisch hochstehend. Ausserdem dermassen anschaulich, als hätte man statt gelesen, einen Film geschaut. Und gerade jetzt ist es wichtig, sich noch einmal die Anfänge des Ukrainekonflikts zu vergegenwärtigen.

Zur Geschichte: Was der Mensch nicht sehen und hören will, hört und sieht er nicht. Und so hat es Sergej Sergejowitsch geschafft, die Geräusche des Krieges, der sich seit drei Jahren in Sichtweite seines Häuschens abspielt, zu ignorieren oder als Teil des Alltags wahrzunehmen. Viel mehr als über Geschützdonner regt er sich über den einzigen Menschen auf, der gleich ihm im Dorf ausharrt: Paschka Chmelenko. Paschka ist sein Feind aus der Kindheit, ausserdem hat Paschka es mit den prorussischen Kämpfern. Vielleicht nicht aus wirklicher Sympathie, aber sie versorgen ihn mit Fleisch, Brot und Wodka. So richtig auf eine Seite mag sich keiner der beiden schlagen­; ihre Neigung zu der einen oder anderen Partei hängt bei Paschka und Sergej, so scheint es, davon ab, wo ihr Haus im Dorf steht: Sergejs Garten schaut auf die unkrainischen Schützengräben hinaus, Paschkas auf die Unterstände der Separatisten. 

Es ist dieser feine ironische Unterton, der mir an diesem Buch besonders gefällt und die schlichte Wahrheit, die dahintersteckt. Was interessiert gewöhnliche Menschen die Politik? Wichtig ist ihnen, dass sie ihr Leben in Ruhe weiterführen können, dass die Handys geladen sind, der Kohlekeller voll ist und man sich ins Nachbardorf begeben kann, ohne auf Granaten zu treten. Welche Absurditäten die Politik mit sich bringt, sei an folgender Buchszene veranschaulicht:

Eines Abends bekommt Sergej Besuch vom ukrainischen Soldaten Petro. Petro erzählt, dass jetzt in Kiew die Strassen umbenannt würden. Sergej gefällt die Idee so gut, dass er sich eines Nachts aufmacht, die Schilder der zwei Dorfstrassen auszutauschen: aus der Leninstrasse wird die nun Schewtschenko-Strasse und umgekehrt.

Alles in allem verläuft der Tag im Dorf eintönig. Sergejs Sorge gilt seinen Bienen, die nach dem Winter wieder ausfliegen wollen. Sie sind ihm das Wichtigste, und er macht sich eines Tages trotz aller Unwägbarkeiten auf die Reise. Bis seine Bienen ausfliegen können, muss er allerdings ein paar Kontrollposten passieren und viele Fragen beantworten. Er begegnet hilfsbereiten Menschen, geniesst eine Liebschaft, bekommt die Bösartigkeit von Funktionären zu spüren. Und er findet auf dem Heimweg auch Petros explosives Gastgeschenk wieder, das er im Wodka-Suff verlegt hat.

Grosse Literatur aus einem Gebiet, das seit 2014 in einem schwelenden regionalen Konflikt feststeckt, der sich 2021 zu einem Krieg ausgeweitet hat, der mittlerweile kaum mehr jemanden ruhig schlafen lässt. Ganz egal, wie weit der Geschützdonner weg ist. Und alles nur, damit wieder ein paar Strassen umbenannt werden? Oder weil ein paar zu klein geratene Männer als Monster in die Geschichte eingehen wollen?

 

Titel: Graue Bienen, Roman, 445 Seiten, Paperback

Autor: Andrej Kurkow

Verlag:  Diogenes, 2021

ISBN 978-3-257-24554-7, 13.­– Euro/17.– Franken