Rezension

Ein (Aus-)Flug in Hedys Leben

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen - Andreas Izquierdo

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen
von Andreas Izquierdo

»Dame in den besten Jahren sucht Kavalier, der sie zum Nacktbadestrand fährt. Entgeltung garantiert!« Fräulein Hedwig ›Hedy‹ von Pyritz hat gänzlich rechtschaffene Absichten im Sinn, als sie ihre Annonce für einen längst überfälligen Ausflug schaltet, der in mehrfacher Hinsicht der Anfang einer Reise bedeutet. Was als kleiner Ausflug an die Ostsee gedacht war, wird zu einer Reise in die Vergangenheit, zur Zeichnung eines Lebensweges, der viele Menschen berührte, wird zu einem Lehrjahr der eigenen Chancen, Möglichkeiten und Fähigkeiten und schließlich sogar zu einer Odyssee in ein neues Leben. Am Ende Expedition steht der kleine Ausflug an die Nordsee und bedeutet doch wieder auch nur den Beginn einer neuen Reise.

Auf 525 Seiten folgt der Leser dem Leben der 88-jährigen Hedy, einer selbstbewussten, gescheit-verschmitzten, aber auch strengen, hochmütigen Dame, die weit mehr zu bieten hat, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen mag – wenn sie einem denn die Chance gibt, hinter die Fassade zu blicken und die mitfühlende, warmherzige Frau zu entdecken und wiederzufinden. Gleich ihrer Villa im französischen Stil, die hoch über einem beschaulichen Örtchen im Münsterland thront, thront nämlich auch Hedy mittels ihrer Ansprüche und Erwartungen über den Menschen, urteilt, befiehlt und lenkt die Geschicke in ihrem Umfeld und bleibt auf Distanz. Doch dass das nicht alles ist, nicht alles sein kann, wird gleich auf den ersten Seiten klar. Trotz dieser hoheitsvollen Erscheinung entwickelt man gleich von Anfang an Sympathie für die rüstige, alte Dame, die sich keineswegs aufgrund ihres Alters für unmündig erklären lässt – wenn sie sich auch Schrullen leistet. Diesen Blick gewährt sie Jan, einem völlig unbedarften, gutmütigen Physiotherapeuten, Legastheniker und Schwarzseher, der gar nicht so richtig begreifen kann, was die alte Dame von ihm möchte. Einzig Hedy scheint das Potenzial, das in dem jungen Mann steckt, zu sehen und nimmt sich prompt seiner an – mit ihrer ganz eignen Art von Fürsorglichkeit. Jan weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Und so dankbar er Hedy für all die Chancen auch ist, scheint er an dem Druck ihrer Erwartungen zu scheitern…Bis Hedy sich ihm öffnet und ihm zeigt, was es heißt, aufzustehen, wenn man am Boden liegt, für sich einzustehen.

„Fräulein Hedy träumt vom Fliegen“ ist ein Roman, der einen lustig-humorvollen Einstieg in eine Geschichte findet, der sich letztlich mit vielen wichtigen Themen auseinandersetzt: Alter, Konventionen, Legasthenie, aber auch dem 3. Reich, der Nachkriegszeit, dem Umgang mit den Nazi-Verbrechen, Aufarbeitung, Sterbehilfe, Stagnation aus Angst vor dem eigenen Unvermögen. Und so witzig und spannend er sich auch gestaltet, ist es auch die Vielfalt dieser Themen, die am Ende eine richtige Tiefe vermissen lassen.
Der Roman ist weit weniger eine leichte Sommerlektüre, als man auf den ersten schnellen Blick vermuten mag, und fordert am Ende auch weit mehr Eigenleistung vom Leser, sich selbst tiefer, intensiver, mit den angerissenen Themen auseinanderzusetzen. Ich persönlich mochte die Entwicklung der ca. letzten 150 Seiten des Romans nicht unbedingt: Für meinen Geschmack waren es zu viele Themen, zu viele Personen, zu viele Konflikte, die meines Erachtens nicht den gebührenden Raum zugesprochen bekommen haben, den sie benötigt hätten, um alle Fragen und Probleme auch wirklich zu klären oder befriedigend zu beleuchten. Aber vielleicht sollte man den Roman als das nehmen, was er am Ende sein könnte: Als Momentaufnahme eines Lebens einer interessanten Frau.