Rezension

Ein bewegender, tiefgreifender und nachdenklich machender Roman, der keinen Leser unbewegt zurücklässt.

Ehre - Elif Shafak

Ehre
von Elif Shafak

Die türkisch-kurdischen Zwillingsschwestern Pembe und Jamila wachsen in einer Großfamilie auf, bei denen die EHRE über allem steht. Ihre Mutter hatte vor ihnen bereits sechs Mädchen geboren und weil sie findet, es seien nun genug Mädchen, wollte sie die Kinder kurz nach der Geburt eigentlich Bext und Bese heißen, was auf kurdisch Kader und Yeter, also Schicksal und Genug bedeutet. Doch der Vater verhindert dies und nennt die beiden schließlich Pembe und Jamila, was Rosarot und Schön bedeutet. Bereits hier wird sichtbar, was EHRE bedeutet und welchen Stellenwert ein Mann in einer türkisch-kurdischen Familie besitzt. Doch die Namen der Mutter waren unauslöschlich mit den beiden Mädchen verbunden und so waren es nun, Pembe Kader und Jamila Yeter. Diese Namen sind bezeichnend und richtig, dies wird im Verlauf der Geschichte deutlich sichtbar.

Als Jahre später Pembe, die Adem geheiratet und einen Sohn geboren hat, mit ihrer eigenen kleinen Familie nach London zieht, bleibt ihre Schwester Jamila allein zurück. Sie arbeitet in dem kleinen kurdischen Dorf als Hebamme. Beide bleiben dennoch ihr ganzes Leben eng miteinander verbunden.

Während Jamila durch ihr Leben und ihren Beruf, die Werte und Traditionen ihres Landes immer wieder miterlebt, ist ihre Schwester Pembe anders, sie erhofft sich in der Ferne eine bessere Zukunft für sich und ihre Familie, was jedoch nicht wirklich eintrifft. Stattdessen droht ihre Familie zu zerbrechen. Als Pembe schließlich den verständnisvollen Elias kennen lernt und sich ihn verliebt, ahnt ihre Schwester, dass das nichts Gutes bedeuten kann und entschließt sich nach London zu reisen.

Elif Shafak hat mir ihrem bewegenden Familienepos einer türkisch-kurdischen Familie einen Roman geschaffen, der bewegt und schockiert. Über allem steht die EHRE, das steht für diese Familie als festgeschriebenes Gesetz. Es ist der Anker ihrer kulturellen Werte, nichts und niemand darf und sollte diese Ehre beschmutzen, tut er es doch, ist ihm nicht mehr zu helfen.

Das Buch beginnt mit dem eigentlichen Ende der Geschichte, welches einen EHREnmord zum Inhalt hat, was einen sofort neugierig macht und man möchte wissen, wie es zur der Tat kam und was die Schwester des Täters so zwiegespalten zurücklässt:

„Ich habe oft daran gedacht, ihn zu töten. Ich habe ausgeklügelte Pläne geschmiedet, in denen Pistolen, Gift oder, am allerbesten, ein Schnappmesser vorkamen – eine symbolische Gerechtigkeit gewissermaßen. Ich habe auch daran gedacht, ihm aus ganzem Herzen zu verzeihen. Letztlich habe ich beides nicht geschafft.“
(Buchauszug, Seite 11)

Auch hier war mir bereits klar, dass die EHRE eine Rolle spielen muss. Diese Erkenntnisse tauchen dem Leser während des Lesens dieses Buches immer wieder auf und man merkt, wie tief verankert dieser Glaube an EHRE in den östlichen Kulturen wohl verbreitet sein muss.
Das Leben von Pembe, aber auch von ihrer Schwester sind von Beginn an, mit diesem einen Wort verbunden. Was ist EHRE wert, wenn die den einzelnen Menschen nicht sieht und ihm das Recht auf Liebe, Freiheit und Eigenständigkeit verwert. In diesem Buch erfährt der Leser es.

Der Schreibstil der Autorin ist bildhaft, eindringlich und anziehend. Dem Leser gelingt es nur schwerlich das Buch wieder aus der Hand zu legen und ins eigene Hier und Jetzt zurückzukehren, so bewegend ist das Schicksal dieser Familie. Offen und ehrlich beschreibt Elif Shafak die Umstände, das Leben und Traditionen einer für uns fremden Welt. Zeitweise fühlte ich mich in Mittelalter zurückversetzt in der ein Mann das Sagen hatte und die Frau gehorchen musste. Doch dann kommt auch wieder zum Vorschein, dass nicht alle aus dieser mir sehr befremdlichen Kultur so denken und für viele auch ganz andere Werte zählen.

Die Protagonisten dieses Buches als auch die Nebenfiguren sind klar und deutlich beschrieben und dennoch bleiben sie vielschichtig und interessant. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, so kommt neben Jamila vor allem auch Pembes Sohn Iskender zur Wort, der eine tragende Rolle in dem Buch spielt. Welche, will ich aber hier noch nicht verraten.

Auch die zeitliche Reihenfolge der Geschehnisse ist nicht geordnet, die Autorin springt zwischen den Jahrzehnten hin und her, was aber durch die Kapitelzweitüberschriften bzw. den Angaben von Ort und Tag für den Leser einfach zu ersehen ist. Dies stört auch beim Lesen nicht, da die Autorin es meisterlich versteht, die einzelnen Geschehnisse und unterschiedlichen Zeiten in die Geschichte so einzufügen, dass daraus ein großes Ganzes entsteht, welche dem Leser das Gefühl gibt, die Geschichte selbst mitzuerleben. Man kann somit der Geschichte sehr gut folgen.

Man bekommt tiefe Einblicke in eine Kultur, die für europäische Verhältnisse sehr befremdlich erscheint. Denn EHREnmord ist ein Thema, was in der westlichen Welt nicht vorkommt, zumindest nicht, wenn man westlich erzogen wurde. Dies ist auch der Grund, was es für viele Menschen so unverständlich macht. Wie kann man sein eigen Fleisch und Blut, seine Verwandte im Namen der EHRE töten?
In diesem Buch bekommt man einen sehr guten Einblick und auch eine Erklärung, was letztendlich zu so einer Tat führen kann. Verstehen kann man es aber dadurch als Europäer aber trotzdem nicht wirklich. Doch zumindest erkennt man die Beweggründe, auch wenn sie für uns noch so abwegig scheinen.

Ein bewegender, tiefgreifender und nachdenklich machender Roman, der keinen Leser unbewegt zurücklässt.