Rezension

Ein Blick über den eigenen Tellerrand

Fliegen lernen - Renée Karthee

Fliegen lernen
von Renée Karthee

Bewertet mit 4 Sternen

Zwei Frauen begegnen sich, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Gerit ist Familienrichterin in Hamburg, kein Mann, keine Kinder, dafür eine schneeweiße Wohnungseinrichtung, alles perfekt. Naja, fast perfekt, manchmal hätte sie schon gern eine Schulter zum Anlehnen. Aber das ist vorbei, und sie mag auch nicht gern darüber reden. Schon garnicht mit der Fremden, die in ihrem Treppenhaus seit ein paar Nächten schläft, wenn man sie lässt.

Diese Fremde ist Sonja, eine junge Frau, deren Leben nach einer vergangenen Liebe mächtig abgestürzt ist. Sie hatte alles, entwarf Designermode, doch das, was sie jetzt noch hat, passt in einen Rucksack und ein paar Tüten.

Und doch hatten diese Frauen etwas gemeinsam: Ihre große Liebe Simon Pinter.

Meine Meinung

In diesem Buch entsteht eine Freundschaft, mit der keine der beiden Protagonistinnen jemals gerechnet hatten. Die Autorin Karthee bringt diese zwei Frauen zusammen und nach und nach entfalten sich ihre Gemeinsamkeiten, die man nicht vermuten würde.

Die verkniffen wirkende 45 jährige Gerit würde sicher nie fliegen lernen. Das wäre nämlich etwas, das sie selbst nicht kontrollieren könnte. Für sie muss alles geplant, gut durchorganisiert und gradlinig verlaufen, selten spontan. Aber sie kontrolliert nicht nur sich selbst, sondern gern auch andere, teilweise unbewusst, es ist einfach in ihr drin. Ihre Nachbarn nennen sie "Eis-Ente", was für ein Kompliment!

Wie anders dagegen ist Sonja. Sie würde sicher gerne fliegen lernen. Aber ihre unbeschwerte Zeit ist vorbei, obwohl sie noch jung ist mit ihren 35 Jahren. Statt Designerklamotten zu entwerfen, sammelt sie Pfandflaschen und kämpft verbittert um kleinsten Luxus, zum Beispiel in einem Bett zu schlafen. Karthee läßt mich in eine Welt blicken, die niemand wirklich sehen will. Schickimickitussi trifft obdachlose Abgestürzte. Und doch liegen beide Welten so dicht beieinander.

Mit klaren Worten werden hier ganz direkt zwei Fronten dargestellt, die im Verlauf immer mehr miteinander verschmelzen.

Nur weil jemand obdachlos ist, muß er nicht automatisch blöd sein, und auch eine "Eis-Ente" kann Gefühle zeigen.

Es ist schön, zu lesen, wie die beiden Frauen nach und nach aus einer Zweckgemeinschaft eine Freundschaft aufbauen, die allerdings immer wieder ordentlich auf die Probe gestellt wird durch einige Reibereien und lautstarke Meinungsverschiedenheiten.

Die Wahrheit tut eben manchmal weh, aber sie öffnet ihnen auch die Augen, die Blickwinkel ändern sich, genau wie die Meinung über den jeweils anderen.

Unterm Strich

Scheinbare leichte Lektüre mit Tiefgang läßt mich über den Tellerrand blicken.