Rezension

Ein grandioses Familienportrait

Der leuchtend blaue Faden - Anne Tyler

Der leuchtend blaue Faden
von Anne Tyler

Wie lässt sich das Buch am besten zusammenfassen? Vermutlich als einen Roman über drei Familiengenerationen einer amerikanischen Durchschnittsfamilie. Das klingt zunächst eher unspektakulär, doch dieses Buch hat auch gar nicht den Anspruch, besonders außergewöhnlich, skurril oder sehr actionreich zu sein. Es sind viele kleine und größere Geschichten über die Entstehung und den Zusammenhalt einer Familie. Anne Tyler schafft es auf beeindruckende Art und Weise, das Wirken und Zusammenspiel einer Familie auszuloten. Genau da kommt die Spannung und das Besondere dieses Buches zum Tragen. Es ist nicht eine Charakterstudie, sondern es sind etwa 12 Charakterstudien, eine Familienstudie. Ganz elegant werden hier die unterschiedlichsten kleinen Begegnungen und Eigenheiten erzählt und nach und nach kristallisiert sich ein größeres Bild heraus. Es werden Strukturen und Hierarchien innerhalb der Familie sichtbar, es werden alte Wunden erst angesprochen, Anspielungen gemacht und dann die Wurzeln offengelegt. Dabei springt sie nicht – wie inzwischen bei Familiengeschichten ja sehr beliebt – zwischen den Zeitebenen hin und her, sondern ribbelt sie von der Gegenwart zu ihren Ursprüngen in den 20er/30er Jahren auf. Das Buch ist deshalb in drei große Abschnitte eingeteilt, in dem jeweils eine Generation der Familie im Fokus steht.
Am Ende steht schließlich die Kennenlerngeschichte der Großeltern, die ich persönlich am interessantesten und prägensten für den Verlauf der weiteren Familienentwicklung fand. Die Autorin spannt gekonnt den Bogen vom rebellischen Ausreißersohn zum wilden Großvater und seiner massiven Obsession zum Familiensitz.

Viele Zusammenhänge werden einem deshalb erst im Laufe der späteren Handlungsstränge klar. Den störrischen und zugeknöpften, zuweilen herrischen Großvater kann man erst verstehen, wenn man seine Anfänge als junger, mittelloser Arbeiter nachverfolgen kann. Aus seiner Perspektive heraus! Denn Perspektiven spielen hier eine sehr große Rolle. Die Wahrnehmung der Ereignisse ist hier sehr unterschiedlich und jede Person nimmt andere Details wahr, interpretiert Aussagen und Gesten nach den eigenen Wünschen. Aus unterschiedlicher Sichtweise werden so verschiedene Geschichten immer wieder neu erzählt, bekommen neue Bedeutung, werden mit Emotionen aufgeladen und direkt danach entzaubert. Dadurch bekommt man ein ausbalanciertes Bild einer vielschichtigen Familie. Ich fühlte mich oft hin- und hergerissen, wem ich nun meine Sympathie und am meisten Glauben schenken soll. Denn alle Figuren haben ihre Fehler und Schwächen, ihr Handeln ist aber durchgängig nachvollziehbar und mit psychologischer Genauigkeit mit Vorangegangenem erläutert. 

Mit der Zeit bilden sich bestimmte Verhaltensweisen und Charakterzüge heraus, die sich bei einigen Familienmitgliedern mal in starker und mal in abgeschwächter Form zeigen. Jede Generation bringt neue Elemente und Impulse in das Familiengeflecht und die Gruppendynamik. Die Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung von anderen führt bei einigen Figuren zu einem Harmoniebedürfnis und bei anderen wiederum zu trotziger Abwehr: Mag mich endlich oder ich verletze dich, scheinen ihre subtilen Sticheleien zu rufen. Jeder hat für sich mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen, hat seine eigenen Unzulänglichkeiten und Wünsche, und doch dreht sich alles immer wieder um die Familie, die inneren Bande und die Sehnsucht nach Zusammenhalt und uneingeschränkter Zuneigung.
Interessanterweise verzichtet Anne Typer auf das typische Ineinander-Verschachteln, um die Verbindungen und Parallelen deutlich zu machen. Sie hätte es dem Leser durchaus einfacher machen können und bestimmte Figuren aus unterschiedlichen Generationen einander gegenüber stellen, ihre Geschichten sichtbar miteinander in Beziehung setzen können.

Anne Tyler hat schreibt bereits seit den 60er Jahren Romane und erhielt sogar für ihr Werk “Atemübungen” von 1988 den Pulitzerpreis. Die Liste an Romanen ist beeindruckend lang, doch tatsächlich bin ich bisher noch über keins gestolpert. “Der leuchtend blaue Faden” ist mein erstes, deshalb kann ich keine Vergleiche ziehen. Doch es ist von einer bestechenden Eindringlichkeit und Prägnanz, einer Unaufgeregtheit und Eleganz, dass ich dieses Buch einfach geliebt habe. Es wird sicherlich nicht das letzte Buch von ihr bleiben, das ich zur Hand nehme.

Fazit

Genau SO müssen Familiengeschichten sein, SO sind sie authentisch und greifbar. Man spürt die Liebe zum Detail in all den Feinheiten, die die Figuren miteinander verbindet wie ein feiner Faden.
Wer Familiengeschichten mag, sollte hier zugreifen. Ich werde mir sehr bald ein weiteres Buch von Anne Tyler besorgen.