Rezension

Ein Leben am Rande der Gesellschaft, umgeben von Müll

Vertraute Welt -

Vertraute Welt
von Hwang Sok-Yong

Bewertet mit 4 Sternen

Glupschaug, der junge Protagonist des Romans, lebt mit seiner Mutter in den 1980er Jahren in den Slums von Seoul. Die Armut ist nie fern und als der Vermieter mit der Kündigung droht, nimmt die Mutter den Vorschlag eines Bekannten an. Sie erhofft sich damit einen festen Job und ein eigenes Heim. Doch anstelle von Freiheit erwartet sie eine noch größere Abschottung und ein Dasein am Rande der Gesellschaft, nämlich auf der Müllhalde. 

Sok-yong schreibt aus der Perspektive der von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Er entführt den Leser in eine Welt, in der Menschen zwölf Stunden am Tag Müll aus riesigen Müllbergen picken müssen, sich mit dem herumschlagen müssen, was andere längst entsorgt haben und von Gestank, Fliegen, Tod, Verwesung, Zerbrochenem, Benutztem und Ausrangiertem umgeben sind. Der Müll liefert das Essen. Aus Müll werden die Hütten gebaut. Müll ist allgegenwärtig. 

In Südkorea ist Hwang Sok-yong ein erfolgreicher Autor, dessen Werk bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Und die Lektüre alleine dieses Romans lässt erahnen, dass die Wertschätzung und der Erfolg seiner Romane sicherlich nicht unberechtigt ist. Denn Sok-yongs Gesellschaftskritik ist tiefgründig und auf eine subtile Art konfrontativ. Er deckt gesellschaftliche Strukturen und Missstände auf, indem er auf Bilder und Szenen zurückgreift, die durch ihre Aussagekraft überzeugen und nicht, indem er sich in langen Beschreibungen oder Anklagen verliert. Ein Beispiel dafür liefert eine Szene, in der eine Frauengruppe Nahrungsmittel an die Müllsammler und deren Kinder in der Kirche verteilt. Denn sie sind nur an den inszenierten Fotos interessiert und nicht daran, den Menschen wirklich zu helfen.  

Der deutsche Titel des Romans „Vertraute Welt“ suggeriert, ebenso wie der englische “Familiar Things”, dass wir als Leser wissen, dass diese Welt existiert, dass sie uns alles andere als fremd ist. Wir verdrängen sie vielleicht, denken nicht über sie nach und überlassen sie den Anderen, aber genau das lässt der Roman nicht zu. Er zeigt, dass Glupschaugs Lebenswelt ein Resultat des immerwährenden Konsums, des Überflusses und der Verschwendung ist. Die beiden Welten, die die Stadt in eine Mitte und in einen Rand aufteilen, sind aufs engste miteinander verknüpft und können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Daher stellt der Roman letztlich auch die Frage von gesellschaftlicher Verantwortung und zwingt zum Hinsehen.