Rezension

Augenöffner

Vertraute Welt -

Vertraute Welt
von Hwang Sok-Yong

Bewertet mit 4 Sternen

Blumeninsel, das ist der euphemistische Name einer riesigen Mülldeponie am Rand von Seoul, das ist auch der neue Wohnort von Gluschaug, dem Protagonisten der Geschichte. Gerade ist er zusammen mit seiner Mutter hergezogen, nachdem sein Vater wegen Diebstals in ein Umerziehungslager gesteckt wurde. Obdach bekommen die beiden vom "Baron", einem Claimverwalter der Halde und damit Chef von einer Hundertschaft von Müllsammlern und -sortierern. Schnell freundet sich Glubschaug mit dem Sohn des Barons, Glatzfleck, an, der ihn in die Gesellschaft der Müllsammlerkinder einführt.

Die Geschichte erzählt sehr detailliert und ungeschönt vom Leben der beiden Kinder. Ihr Haus besteht aus Müll, ihre Kleidung stammt aus dem Müll, selbst das Essen wurde für den Verzehr aus dem Müll gefischt. Dadurch ist die Atmosphäre sehr bedrückend, mein Gedanken-Karussell hinsichtlich der eigenen Müllverursachung fing sich direkt an zu drehen. Zudem wurde ich wieder einmal überrascht von den Zuständen in dem hoch technologisierten Südkorea. Ausgehend von einem modernen Land, hatte ich kein Dritte-Welt-Elend erwartet.

Die Kinder Glubschaug und Glatzfleck haben mich begeistert, weil sie so herrlich normale Kinder sind. Dass sie die Abgehängten der Gesellschaft sind, hält die beiden keinesfalls davon ab, ihre Abenteuer zu erleben. Sie erkunden ihre Umgebung, bauen Buden, setzen sich mit Gleichaltrigen auseinander, machen auch mal großen Unfug. Damit haben mich Glubschaug und Glatzfleck an die Zeiten vor dem Überkonsum erinnert, wo Kinder trotz fehlendem Technik-Schnick-Schnack keine Langeweile hatten. Sie waren draußen unterwegs, bei ihren Eltern haben sie sich zu den Mahlzeiten wieder eingefunden.

Stilistisch wirkt „Vertraute Welt“ manchmal etwas altbacken, wobei die Geschichte in die 1980er einzuordnen ist. Deshalb ist das schon irgendwie passend, aber ich bin so einigen Formulierungen begegnet, die ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe. Weiterhin ist die Erzählweise recht straight, die grausame Lebenswirklichkeit der Jungen wird direkt rüber gebracht. Mit Rückschlägen bzw. Schicksalsschlägen im Leben wird maximal rational umgegangen, was auf mich im hier und heute manchmal schon eine befremdliche Wirkung hatte.

Wichtig für mich ist der augenöffnende Effekt, den die Lebensweise der Müllsammler auf mich hatte. Solche Geschichten schaffen Bewusstsein für das eigene Tun, aber auch hinsichtlich des genauen Betrachtens von anderen Regionen dieser Erde. Zu leicht sitzt man dem Irrtum auf, dass vergleichbare Technologiestandards auch vergleichbare Lebensstandards bedeuten. Deshalb habe ich den Roman von Hwang Sok-Yong gern gelesen und empfehle ihn uneingeschränkt weiter.