Rezension

Eindrucksvoller, authentischer Bericht über ein aktuelles Thema unserer Gesellschaft, das dringend mehr Aufklärung benötigt.

In den Gangs von Neukölln - Christian Stahl

In den Gangs von Neukölln
von Christian Stahl

Bewertet mit 5 Sternen

Täter oder Opfer - die verhängnisvolle Variante.

Am 24. März 2014 fand im Kriminalgericht Moabit im ersten Stock, Saal 700 eine Urteilsverkündung statt.

Der 23jährige, "polizeierfahrene" Angeklagte Yehya E. wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt, zu der noch ein Jahr offene Bewährung hinzugerechnet werden musste, sodass 6 Jahre Freiheitsentzug verhängt wurden, die ihn - falls keine vorzeitige Entlassung erfolgte - bis über seinen 28jährigen Geburtstag hinaus hinter Gittern festhalten würden.

Das war die aktuelle Lebenssituation des jungen Arabers Yehya, der im Libanon geboren wurde und im Alter von 4 Wochen mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Sie hatten ihre Heimat als Kriegsflüchtlinge verlassen und waren auf beschwerlichen Wegen mit Lkw's, Booten und irgendwelchen Transportmöglichkeiten über Syrien letztendlich mit dem Flugzeug als Asylbewerber auf dem Berliner Flughafen Tegel gelandet, von dort einem Asylheim zugewiesen worden und irgendwann danach in eine Wohnung am Prenzlauer Berg gezogen. Aber auch das war nur die Zwischenstation für kurze Zeit, in der sie bewusste Ausgrenzung, Unverständnis und Feindseligkeit erfuhren, Als tätliche Angriffe auf die Familie erfolgten, deren Ursache ihre Herkunft und Religion waren, zogen sie nach Neukölln, Und hier eröffnete sich dem jungen Yehya eine andere Welt, eine, in der er kein Fremder war, eine, die den Gedemütigten in einen "Macher" verwandelte, in der andere Begriffe herrschen, andere Wertigkeiten eine Rolle spielen, eine differente Parallelgesellschaft, die ihre eigenen Gesetze hat und ihr spezielles Machtgefüge, gebildet aus den Menschen, die eine ständige Gratwanderung vollziehen zwischen Recht und Ordnung, Unrecht und Chaos. Aus welcher Sicht man ihre Handlungsweisen allerdings auch betrachtet oder deren Vorzeichen auch vertauschen mag, so sind sie dennoch auch immer wieder die Verlierer.

Und hier kommen die Fragen. Wer macht sich schuldig? Wo liegt die Ursache am Versagen von Lebensformen - hüben oder drüben? Beim Bittenden oder beim Gewährenden? Muss nicht Menschlichkeit einen Teil der Gesetze prägen, die doch für Menschen gemacht werden? Wie soll man auf Fremdes reagieren, das man nicht versteht? Ist es nicht richtig, neugierig zu sein und zu fragen, anstatt auszugrenzen und zu verurteilen?

Christian Stahl hat ein aufwühlendes Buch geschrieben.

Lebendig und straff, spannend und eindringlich reihen sich hier Ereignisse aneinander, die teils aus seiner eigenen Sicht als Journalist und Freund teils aus der Perspektive Yehyas geschildert werden. Authentisch und ungeheuer aktuell wird der bisherige Lebensweg des jungen Arabers in einer Welt geschildert, die kulturell und geschichtlich nicht der seiner Vorfahren entspricht. Die Gegensätze, die selbstverständlich im Ursprung vorhanden sind, werden zum Anlass von Diskriminierung, Ablehnung und Fremdenhass, gegen die man vergeblich kämpft, um anschließend doch illusionslos aufzugeben. Es sind die Menschen auf beiden Seiten, die an ihre Grenzen stoßen, eingebunden in Gesetzmäßigkeiten, Empörung und Gleichgültigkeit auf der einen, Wut, Enttäuschung und Geltungsbedürfnis auf der anderen Seite. Jeder für sich ist überzeugt und sicher, die richtige Position inne zu haben und die eingeschlagenen Wege driften immer verhärteter auseinander.

Das Buch hat mich stark beeindruckt und lässt mich mit vielen Fragen zurück.

Eines aber weiß ich genau: Ein nur "Schwarz - oder - Weiß" -Denken wird es für mich nicht mehr geben.

Mit Freude und Hoffnung registriert man von politischer Seite die jüngste Entwicklung zur Lockerung der Residenzpflicht für Asylanten sowie die Verkürzung der Zeitspanne, in der sie keiner Tätigkeit nachgehen dürfen - hoffentlich ein weiterer Schritt zu verständnisvollem Miteinander.

An dieser Stelle gibt es von mir eine unbedingte Leseempfehlung.